Die französische Literaturkritik ist sich einig: Ein Wunder! Sein Name: Jonathan Littell. Mit „Die Wohlgesinnten“ habe er, so Iris Radisch in der ZEIT über die Rezeption des Romans in Frankreich,
die Untiefen der NS-Täterschaft ausgeleuchtet, er sei in den Sumpf gestiegen wie Dante in die Hölle und habe von dort kostbare Erkenntnisse ans Licht befördert. Er habe aus den Unmenschen Menschen gemacht, den Mördern ein Gesicht und eine Familiengeschichte gegeben, der europäischen Literatur die große Erzählung des 20. Jahrhunderts geliefert und so weiter.
Die ZEIT dagegen spricht von widerwärtigem Kitsch, der die Diskussion um die NS-Täter weit zurück wirft. Und wir haben auch etwas auszusetzen.
In seinem Roman schildert Littell aus Sicht eines SS-Offiziers den Massenmord an den Juden. Stilmittel hierfür sind Seiten voll splitternder Hirnschalen, ejakulierender Gehenkter, purpurroter Erwürgter und aufgeschlitzter Soldaten. Das Entscheidende jedoch, die strategische Provokation, wie die ZEIT es nennt, ist die Beschreibung des NS-Täters von innen, die eine publizistische Lücke [füllt], die merkwürdigerweise noch niemandem aufgefallen war. Dieser Ansatz wird von Iris Raddisch in der ZEIT nicht problematisiert. Was ihr jedoch mißfällt, ist das, was Littell damit erreicht. Und da fällt ihr Urteil eindeutig aus:
Das Problem liegt darin, dass Max Aue [der Protagonist des Romans] mitsamt seinem Geisteszustand 1400 Seiten lang den Nachlass des Nationalsozialismus poliert.
Aber: Was sollen wir mit dieser endlosen Rollenprosa eines überzeugten Nationalsozialisten und Rassisten? Littell behauptet, ihn habe die Frage nach den Motiven der Leute, die töten, gefesselt. Viel mehr als die Opfer. Diesen Anspruch löst er allerdings, so jedenfalls Radisch, nicht im geringsten ein: Von kostbaren Erkenntnissen kann keine Rede sein. Das Buch sei vielmehr eine verstörende Arbeit am nationalsozialistischen Mythos. Denn wieder und
wieder wird in dem Roman suggeriert: Mit diesem, dem intellektuellen, dem nüchternen und geläuterten und nicht durch »viele Mechanismen der Entscheidungsfindung pervertierten und verderbten« Nationalsozialismus hätte man auskommen können.
Verantwortlich für sein Handeln ist in diesem schicksalsgegebenen Morast wenig überraschend niemand:
„Der Zusammenhang zwischen Wille und Verbrechen“, erklärt der SS-Offizier in endlosen Tiraden, sei nur »eine christliche Vorstellung«, aber – dieser Beweisführung dient der ganze Roman – eine falsche. Ein großes fatalistisches Schulterzucken geht durch das Buch: Was geschehen ist, ist geschehen, musste geschehen. Die christliche Moral, die menschliches Geschehen bewertet, wird als rückständiges Ideengut verhöhnt.
Der eigentliche Skandal ist aber, dass dies offenbar auch das Denken von Littell ist. Auch er präferiert
eine »strukturalistische« oder »funktionalistische« Betrachtung des Nationalsozialismus, die ebenfalls die Frage nach der individuellen Verantwortung als eine »Rückkehr zur Standard-Erzählung« vernachlässigt. Das Problem der Ausrottung, sagt er, solle am besten universalisiert und »dejudaisiert« werden.
Seine Angst vor der Standard-Erzählung hält Littell allerdings nicht davon ab, neben der Dejudaisierung der Opfer zugleich eine Homosexualisierung der Täter vorzunehmen und damit eines der ärgsten Klischees im Zusammenhang mit dem NS zu reproduzieren. Der Sozialpychologe Harald Welzer schreibt über die Abgründe der Hauptfigur des Romans:
Nichts, was in diesem Buch steht, bringt irgendetwas Neues, inhaltlich wie ästhetisch. Sein Bild vom Täter konserviert die von der Forschung mühevoll überwundene Figur des Abnormen, und wahrscheinlich deshalb muss Aue dem Führer am Ende noch in die Nase beißen.
Und wer dem Führer in die Nase beißt, der kann nur eines sein:
homosexuell, was ihn freilich nicht davon abhält, ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Zwillingsschwester zu haben, wobei der Bildungsstand der Akteure dadurch unterstrichen wird, dass die Geschwister sich über Rank und Ferenczi austauschen – wohl um den geneigten Leser servicehalber auf die Psychoanalyse des Inzests hinzuweisen –, bevor der Bruder die Schwester in einem Museum auf einer Guillotine penetriert.
Auch Radisch bemängelt,
dass der Roman entweder gar keinen Stil hat, weil er sich ganz auf den dokumentarischen Rapport im anspruchslosen Hauptsatzformat zurückzieht, oder einen schwülstigen, primitiven Ton anschlägt, wenn Aue sich in homosexuellen, inzestuösen oder analerotischen Fantasien ergeht (vor dem Foto der Mutter »wichste ich oder blies meinen Liebhabern einen oder ließ sie darauf abspritzen« und so weiter).
Aber so sind sie halt, die Schwulen, pervers. Oder waren das die Nazis? Ist doch eh alles dasselbe, referiert Welzer Littells Versuch der Anthropologisierung des Holocausts:
Die Vernichtung der Juden richtet sich im Grunde nicht gegen diese, genauer gesagt: Sie ist nicht spezifisch. »Sie sind wie wir«, sagt Max Aue, der Judenvernichter, der übrigens beschnitten und von unklarer Herkunft ist.
Was übrig bleibt? Welzer meint, nicht viel und doch das gänzlich Falsche:
eine neue Eskalationsstufe der Nazi-Faszination (…) die pure Affirmation des Grauens.
Und neues Material für alle die, die es schon immer wussten: Schwule sind Nazis. Und Nazis sind schwul.
„Die christliche Moral, die menschliches Geschehen bewertet, wird als rückständiges Ideengut verhöhnt.“
Sehr interessant, dieser Satz! Denn im Grunde ist das die Einstellung eines Großteils unserer säkularisierten Gesellschaft.
Vielleicht ist das ja ein Grund dafür, dass das Buch sich so gut verkauft, jedenfalls in Frankreich. Übermorgen startet der Verkauf in Deutschland, bin gespannt, wie sich hier die Zahlen entwickeln.
Mit grossem Aufwand von der FAZ beworben. Mit Leseproben und Forum.
Und man sollte nicht voreilig urteilen.
Wird das auch mit Tom Cruise verfilmt?
Noch ein Verriss des Buches, u.a. wegen der damit bedienten Homophobie: http://thegaydissenter.wordpress.com/2008/02/18/die-wohlgesinnten-ein-buch-von-jonathan-littell/
Den Roman darauf zu reduzieren, dass Aue homosexuell ist (ist er das überhaupt wirklich?), ist schon etwas mager. Ich lese das Buch gerade und tippe fleißig mein Lesetagebuch. Es ist pervers und verstörend. Aber es ist nicht der Schund, den viele Kritikerinnen darin gerne sähen.
Jedenfalls versäumt es kein Rezensent zu erwähnen, dass Aue homosexuell ist. Den Roman auf die Homosexualität seines Protagonisten zu reduzieren, wäre sicherlich mager. Das macht aber doch keiner. Worum es an diesem Punkt der Kritik geht, das ist die Verbindung von Homosexualität und – zum Beispiel – Inzest und der Penetration auf einer Guillotine, wodurch der Eindruck der Abnormität noch gesteigert bzw. spätestens hergestellt wird.