Klaus Wowereit hat es nicht leicht. Während rechte Schmierfinken dämliche Anspielungen auf seine sexuelle Orientierung machen, muss er sich von der Front der Literaturkritiker vorwerfen lassen, er habe sich zu einem Zeitpunkt geoutet, als
für einen solchen Auftritt hierzulande glücklicherweise kein sonderlicher Mut erforderlich
war. Eigentlich aber hat Wowereit sowieso keine Chance bei der Literaturkritik, zumindest in der Person von Rolf Löchel, er ist nämlich ein Mann. Und die sind feige, wie Löchel an einem historischen Gegenbeispiel belegen will. 97 Jahre vor Wowereit hatte sich nämlich
schon einmal jemand mit ganz ähnlichen Worten zu seiner, nein zu ihrer Homosexualität bekannt. In einer ihrer sexualtheoretischen Schriften erklärte Johanna Elberskirchen: „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht.“ Damals gehörte noch weit mehr Courage zu diesem Bekenntnis, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass es von einer Frau stammt.
Frauen sind aber nicht nur mutiger, sie sind auch phantasievoller und so hat die Biographin der Elberskirchen ganze (de)konstruktivistische Arbeit geleistet:
Im Unterschied zur „traditionelle[n] Lebensbeschreibung“, die eine historische Person „lediglich als individuelles geschlossenes Selbst begreift und sie dabei aus gesellschaftlichen Strukturen löst“, nimmt die Autorin ganz bewusst eine bestimmte Perspektive ein, um Elberskirchens Lebensgeschichte mithilfe des „Prinzip[s] der Montage“ zu „konstruieren“. Sie lässt die Protagonistin ihrer Arbeit in einem „Kaleidoskop sozialer, kultureller und politischer Entwicklungen und Zusammenhänge“ erscheinen, womit sie zugleich ein „Panorama der Zeit“ entwirft. Diesen „dialektische[n] Prozess der Konstruktion einer Biographie“ beschreibt Leidinger als „Zusammentragen und Lesen einerseits und Entziffern und Verstehen andererseits.“
Ganz praktisch läßt sich über dieses konstruierte Zeitpanorama auch das eine oder andere Skandälchen im Denken der Elberskirchen eskamotieren. So schreibt Löchel von der
gelegentlich eugenischen und rassehygienischen Argumentation
der Elberskirchen, mit der sie sich quasi in bester Gesellschaft befand,
denn diese war sowohl in der Gesellschaft wie auch unter Feministinnen weit verbreitet.
Wobei sie dem Ganzen noch eine spezielle Note verlieh,
die spezielle inhaltliche Ausprägung des „proletarischen Biologismus“
nämlich. Der bestand z. B. im Kampf gegen
Vergewaltigungen und Vergewaltiger
die sie auch unter ihren
sozialdemokratischen Parteigenossen
ausmachte:
Im Jahr 1896 wurde Karl Moor, seinerzeit führender Schweizer Sozialdemokrat in einem fragwürdigen Prozess von dem Vorwurf der Vergewaltigung frei gesprochen.
Der einzige Protest dagegen kam von Elberskirchen, die
mit ihrer Broschüre „Socialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Socialdemokratie?“ gegen das Urteil
protestierte, da sich die Diktatur des Proletariats und Anarchie nicht so gut miteinander vertragen. Warum allerdings Herrschaftslosigkeit die Vergewaltigung von Frauen eher ermöglichen sollte als die Herrschaft der Arbeiterklasse, diese Frage sorgt wohl noch heute für erregte Diskussionen zwischen Libertären und SozialdemokratInnen.
Wie sozialdemokratischer Mut im Jahre 2008 aussieht, das haben gestern – vielleicht nicht im Sinne Elberskirchens, aber in antitotalitärer Deutlichkeit kaum zu überbieten – vier PolitikerInnen in Hessen bewiesen.
Und diesen vier PolitikerInnen sollten wir Respekt zollen. Gruß aus der hessischen Landeshauptstadt…