Die Feinde der individuellen Freiheit sind zahlreich. Zuweilen artikuliert sich diese Feindschaft lautstark und unmissverständlich, manchmal auch aber eher ruhig und bedächtig. So wie etwa bei Sven Hillenkamp. Dieser hat ein Essay, basierend auf seinem neuen Buch, geschrieben, in dem er über das „Ende der Liebe“ lamentiert. Was eine interessante Analyse über die Angewohnheit mancher Menschen hätte sein können, individuelles Glück mit der Suche nach absoluter Perfektion zu verwechseln, gerät leider zu einem kulturkonservativen Lamento über die Zumutungen der Freiheit:
Die freien Menschen haben etwas Romanhaftes. Sie folgen der Logik ihres Lebens, wie Romanfiguren, unerbittlich, bis zur letzten Konsequenz. In Zeiten, da man seine Gefühle unterdrückte, man aus Gründen der Moral und Ehre am Alten festhielt, man nicht tat und tun konnte, was man wünschte und wollte, da hatte der Roman die Aufgabe, die Gefühle und den Willen der Menschen sichtbar zu machen, indem er von Menschen erzählte, die sie auslebten. Heute aber werden alle Romane von der Realität übertroffen. Die freien Menschen folgen ihren Gefühlen bis zum Schluss. Sie leben als Äußerstes ihres Innersten. Sie gehen bis an ihre Grenzen – und zeigen damit allen, wo ihre Grenzen sind. Sie machen Medienkarrieren. Sie leben in Ladenlokalen. Sie stellen ihre Stühle auf die Straße. Sie stellen ihr Innerstes aus. Sie wollen romanhaft lieben, doch romanhaft lieben sie nicht. Sie würden ihr Leben umwälzen für die Liebe. Sie sagen immer, was sie fühlen, sie schreien es heraus. Sie werden Mitglied in Liebesgruppen, Liebessekten. Sie nehmen an Orgien teil. Sie sind Mitglied in Orgienvereinen, Swingerclubs. Sie weigern sich, länger als eine Woche unglücklich zu sein – und trennen sich also. Sie weigern sich, länger als zwei Stunden ihre Sehnsucht auszuhalten – und haben Sex mit Unbekannten. Sie sitzen onanierend vor dem Computer. Die freien Menschen leben romanhaft und sterben romanhaft. Sie betreten in Armeekleidung eine Schule und schießen drauflos, sie steuern Passagierflugzeuge in die Hochhäuser einer Großstadt. Wären Romane denkbar, die eine größere Konsequenz entfalteten, deren Logik unerbittlicher wäre? Die Motive des Romans und die Motive der freien Menschen sind tatsächlich die gleichen: alle Fantasien zu realisieren, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Die freien Menschen sind Fantasienrealisierer.
Das ist es also, was freie Menschen ausmacht: Sex mit Unbekannten, Onanie, Amokläufe, Terrorismus. Eine zwangsläufige Aneinanderreihung von Grausamkeiten in einer Welt ohne „Ordnung“. Um wieviel schöner war es dagegen im Mittelalter, dort, wo noch jeder Mensch seinen Platz hatte:
Im Mittelalter hatte der Mensch einen festen Platz in einer gesellschaftlichen und göttlichen Ordnung. In der Moderne stand der Mensch im Konflikt mit der gesellschaftlichen und göttlichen Ordnung. Er behauptete sich gegen sie, wälzte sie um, wuchs über sie hinaus. Wenn er von Freiheit sprach, meinte er eine Freiheit, die sich gegen eine Ordnung behaupten musste. Beide, Mittelalter und Moderne, sind Zeiten eines Miteinanders gewesen, eines Bezogenseins auf andere, in Liebe oder in Feindschaft und Kampf. Im Mittelalter lebte der Mensch weitgehend in Harmonie mit den anderen, seinen Herren und Untertanen, seinem Gott. In der Moderne kämpfte er mit den anderen – seinen rebellischen Untertanen, seinen tyrannischen Herren, einem paradoxen, irrsinnigen Gott. Jetzt ist der Mensch allein. Das heißt: Die Ordnung hat sich so gewandelt, dass es im Bewusstsein des Menschen jetzt ausschließlich auf ihn selbst ankommt. Der Mensch scheint frei, sich selbst zu wählen, die anderen zu wählen, die eigene Ordnung zu bestimmen. Er scheint unbegrenzte Möglichkeiten zu haben. Doch jeder Mensch versagt vor seinen unbegrenzten Möglichkeiten. Keiner erreicht, was er erreichen könnte.
Das klingt nicht nur, wie der tausendste Aufguss des Lamentos über die Entfremdung des Menschen in der individualisierten Moderne, es ist überdies ein leiser Kampfschrei gegen die Freiheit des Menschen, sein Leben selbst zu bestimmen, nach seinem persönlichen Glück zu streben und eben die vielfätigen Möglichkeiten, die das Leben bietet, zu testen und auszukosten.
Woher will Hillenkamp wissen, dass jeder Mensch vor seinen „unbegrenzten Möglichkeiten“ versagt? Was macht ihn so sicher, dass niemand erreicht, was er erreichen könnte? Glaubhaft kann er dies nur behaupten, wenn er ein eindeutiges Bild von dem hat, was jeder Mensch als sein persönliches Glück und Ziel haben sollte. Und mit diesem Anspruch, reiht er sich in die lange, unrühmliche Liste von Personen ein, die immer schon am Besten wussten, wie Menschen ihr Leben gefälligst zu leben haben.
Wie schafft Hillenkamp es, Freiheit und die Anschläge des 11. September miteinander zu verbinden? Die Attentäter des 11. September stammten meines Wissens zum größten Teil aus Saudi Arabien und Ägypten. Insbesondere Saudi Arabien liefert wohl ein Paradebeispiel dafür, zu welcher psychischen Deformation Unfreiheit führen kann.
Wenn Hillenkamp dann vom Mittelalter schreibt, in dem die Menschen in Harmonie miteinander lebten, welches Mittelalter meint er?
Das, in dem Menschen für jegliches Anderssein gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden? Oder das Mittelalter der Armut und Leibeigenschaft? Das Mittelalter, in dem Ehen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen und überzählige Kinder in Klöster gesteckt wurden? Wie schafft es Sven Hillenkamp nur, Unfreiheit derart romantisch zu verklären und die Verantwortung für das eigene Versagen so vollständig auf die Gesellschaft abzuwälzen?
Wenn man Anhänger der Postmoderne ist, bzw. sein Midlife-Crisis mit der Weltlage verwechselt, dann geht das ohne weiteres.
Die kulturkonservative Welle aus Amerika scheint bei uns also – wie immer mit Verzögerung von 5 Jahren – angekommen zu sein.
Deine Kritik ist mir zu simpel geraten – und zu ideologisch. Bei dem Tagesspiegel-Text handelt es sich nur um Auszüge, deshalb will ich klarstellen: Hillenkamp sehnt sich nicht nach dem Mittelalter, aber er zeigt, dass auch unsere (postmoderne) Freiheit kein Zustand unendlicher Glückseligkeit ist. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Ja, es gibt ein Zuviel an Freiheit, das einen einzelnen Menschen überfordern kann. Deine Kritik erinnert mich ein bisschen an „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“.
„aber er zeigt, dass auch unsere (postmoderne) Freiheit kein Zustand unendlicher Glückseligkeit ist.“
Genau darauf zielt meine Kritik ab: Woher wollen Hillenkamp und du wissen was „unendliche Glückseligkeit“ für den einzelnen Menschen bedeutet?
Du fühlst dich von „zuviel Freiheit“ überfordert? Das interessiert mich jetzt: Was genau überfordert dich? Vielleicht kann ich helfen.
Björn,
zuviel Freiheit? Wo? Zeig mir den Weg in dieses gelobte Land. Deutschland kann’s ja nicht sein, oder?
Ich bin ein Freund individueller Freiheit, ich habe sie lange fast schon im Übermaß genossen und genieße sie noch immer.
Dennoch wird mir immer klarer, dass individuelle Freiheit in dem Maße, wie wir sie heute geneißen, langfristig in den Untergang führen wird.
Ich habe kein Rezept dagegen und ich glaube auch nicht, dass man den Trend irgendwie umkehren kann. Aber zu beschreiben, was da gerade mit unseren westliche Gesellschaten passiert und den Weg in den Abgrund zu bedauern, das ist mehr als legitim. Dafür sollte man Sven Hillenkamp nicht kritisieren.
@ Martin P.
„Dennoch wird mir immer klarer, dass individuelle Freiheit in dem Maße, wie wir sie heute geneißen, langfristig in den Untergang führen wird.“
Kannst Du mir das mal näher erläutern?
Ganz einfach, es gibt so viele Möglichkeien sein Leben zu gestalten, das wird auch immer mehr Heteros bewusst, warum sich jahrelang mit Kindern herumschlagen?
Früher haben sich sie Leute nicht so klar gemacht wie heute, dass man nicht unbedingt Kinder bekommen muss.
Tja, und so wird es wohl bei den 1,3 Kinder pro Frau bleiben. An unseren westlichen Lebenstil assimilieren wollen wir, wenn man unsere Politiker fragt, auch niemanden mehr – also, langfristig wars das dann wohl mit der westlichen Kultur.
@ Martin P.
Ich glaube daran, dass die Idee der Freiheit (das, was für mich den Westen ausmacht) in jedem Menschen steckt. Insofern glaube ich nicht an den Untergang der westlichen „Kultur“, die übrigens keine Kultur ist, sondern eine Zivilisation.
Klar, wie ich erst kürzlich gelernt habe, geht das nicht auf ewig so weiter. Aber anders, als Du denkst: Denn irgendwann kommt eh eine Hyperinflation und dann beginnt der ganze Käse von vorne.
@Adrian
„Genau darauf zielt meine Kritik ab: Woher wollen Hillenkamp und du wissen was „unendliche Glückseligkeit“ für den einzelnen Menschen bedeutet?“
Gegenfrage: Und woher weißt du es? Hillenkamps Buch basiert übrigens auf einer ganzen Reihe von Studien, die im hinteren Teil des Buches aufgeführt sind.
„Du fühlst dich von „zuviel Freiheit“ überfordert? Das interessiert mich jetzt: Was genau überfordert dich?“
Lies das Buch. Da steht alles, ziemlich treffend. Im Auszug eigentlich auch schon. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir in vielerlei Hinsicht zwischen zu vielen Möglichkeiten WÄHLEN können (und damit meine ich nicht die Wahlen zum Bundestag), zuvörderst zwischen einer schier unendlichen Zahl von Sex- oder Liebespartnern. Glücklich macht das nicht, fürchte ich. Mich jedenfalls nicht. By the way: Ich empfehle auch Richard Sennetts „Der flexible Mensch“ und „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“.
@Marco
„Björn, zuviel Freiheit? Wo? Zeig mir den Weg in dieses gelobte Land. Deutschland kann’s ja nicht sein, oder?“
1. Und wieso nicht? 2. Wieso „gelobt“?
„Gegenfrage: Und woher weißt du es?“
Ich habe nie behauptet, dass ich es weiß.
„Hillenkamps Buch basiert übrigens auf einer ganzen Reihe von Studien“
Studien die was aussagen?
„Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir in vielerlei Hinsicht zwischen zu vielen Möglichkeiten WÄHLEN können“
Du sagst es: „KÖNNEN“.
„Glücklich macht das nicht, fürchte ich.“
Was ist Deine Alternative? Die Zwangsverpartnerung?
@Adrian
Vielleicht liest du wirklich erstmal das Buch, weil…
„Studien die was aussagen?“
… ich es an dieser Stelle weder zusammenfassen kann noch will. Nur soviel: Die Studien stützen (natürlich) die Grundaussage des Buches.
„Du sagst es: „KÖNNEN“.“
… doch genau darin die Crux liegt.
„Was ist Deine Alternative? Die Zwangsverpartnerung?“
… es nach Meinung von Hillenkamp überhaupt keine Alternative gibt. Was du wüsstest, wenn du das Buch gelesen hättest, das – wie schon erwähnt – kein Zurück ins Mittelalter fordert, sondern sachlich, analytisch und frei von falschen Illusionen die Gegenwart beschreibt. Der Begriff „freie Menschen“ ist in diesem Zusammenhang übrigens ironisch zu verstehen – es handelt sich eben um Menschen, die glauben, frei zu sein, es in Wahrheit aber nicht sind.
„sondern sachlich, analytisch und frei von falschen Illusionen die Gegenwart beschreibt.“
Das Buch beschreibt wohl eher Hillenkamps Interpretation der Gegenwart.
„es handelt sich eben um Menschen, die glauben, frei zu sein, es in Wahrheit aber nicht sind.“
Und was wären dann wahrhaft freie Menschen?
hallo jungs
ich brauche hilfe
Dann rufst Du am Besten bei Deinem örtlichen Rosa Telefon an, die Nummer gibts im Netz.
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