Bürgerliche Schwule lesen Chomsky

11 Okt

Die „Verbürgerlichung“ der Schwulenbewegung. Spätestens mit Guido Westerwelle, ist diese unübersehbar. Das zumindest ist das Resümee der NZZ, die sich in einem längeren Artikel mit den Schwulen beschäftigt, für die es auch ein Leben jenseits des CSD gibt. Nun gut, möchte man meinen, sind das nicht alle? Ist der CSD nicht eh nur einmal im Jahr? Und was heißt in unserer postmodernen Welt überhaupt noch „bürgerlich“?

Vielleicht gibt uns die NZZ Antworten:

Wie man es dreht und wendet, am Nadelstreifenanzug dieses Mannes klebt nicht das winzigste Boafederchen eines Tunten-Klischees. Einst von politischen Gegnern als «Guido der Leichtmatrose» verhöhnt, hat sich Guido Westerwelle mit Durchhaltewillen und demonstrativer Sachlichkeit zur lang ersehnten Regierungsverantwortung durchgekämpft. Geholfen hat ihm dabei aber nicht nur seine Beharrlichkeit, sondern auch seine bürgerlich-heterosexuell geprägte Lebenshaltung.

Was um alles in der Welt ist eine „bürgerlich-heterosexell geprägte Lebenshaltung“? Gut, Westerwelle ist insofern „bürgerlich“, als dieser Begriff einen „Lebensstil“ definiert, der sich dadurch auszeichnet, früh aufzustehen, zu arbeiten, Verantwortung für sein Leben zu tragen und linken Ideen mit einem nachsichtigen Lächeln zu begegnen, jenem Lächeln, das der weise Erwachsene pubertierenden Jugendlichen schenkt, die noch nicht viel vom Leben wissen, aber dennoch bereits glauben, die ganze Welt erklären zu können.

Nichts scheint Westerwelle schlechter zu Gesicht zu stehen als der vielzitierte Hedonismus und die sexuellen Ausschweifungen der Schwulenszene.

Nun, was ist „die Schwulenszene“? Womöglich nicht mehr als eine heterosexuelle Phantasie, zumindest, wenn man sie mit Begriffen wie „Hedonismus“ und „sexueller Ausschweifung“ belegt. Sicher, das gibt es auch unter Schwulen. Aber wo gibt es das nicht?

Westerwelle mag Beachvolleyball lieber als Fussball und war schon als Bub in Pferde verliebt.

Und das erfüllt bereits ein Klischee? Zugegeben, auch ich mag Beachvolleyball lieber als Fußball – noch lieber habe ich allerdings Beachvolley- und Fußballer. Und auch an Pferden finde ich Gefallen, besonders, wenn es sich um temperamentvolle männliche Exemplare der Equiden handelt. Aber was sagt uns das jetzt?

Auch Erinnerungen an das sonnengelbe «Guido-Mobil», das den Deutschen auf die Nerven ging, wo immer auch das neckische Gefährt auftauchte, liessen hauchdünne Spuren von Extravaganz erkennen.

Doch trotz all dieser „Extravaganzen“, die uns offenbar auch die NZZ als zur Homosexualität zwingend dazugehörig verkaufen will, verläuft das Leben der meisten Schwulen in den gewohnten Bahnen der Bürgerlichkeit. Zumindest in der Schweiz:

Zum Beispiel David. Er lebt mit seinem Freund im Vorort einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Die meisten Bewohner dieses Vororts führen bürgerliche Existenzen in Neubauwohnungen mit gelbem Klötzliparkett. David ist ein Autonarr, am liebsten braust er mit seinem Cabriolet durch die Landschaft, pflegt mit Hingabe den Lack seines Lieblings. Er mag aber auch ruhige Abende auf dem Sofa, im Ofen ein Kuchen, seinen Kopf in den Schoss seiner grossen Liebe gebettet. Am Wochenende kommen die Kinder von Davids Freund, mit ihnen spielt er mit der Playstation, oder sie schauen sich ein Eishockeyspiel an. Eishockey ist ihre gemeinsame Leidenschaft, Davids Freund trägt sogar einen Stecker in Form eines Eishockeyspielers im Ohr.

Ja, so fragt man sich, was soll man auch sonst von David erwarten? So läuft nun mal das Leben in der gehobenen Mittelschicht eines westlichen Industrielandes des 21. Jahrhunderts. Warum sollten Schwule da anders als die anderen sein?

Davids Freunde sind vorwiegend heterosexuell, vor allem sind es – noch so ein Klischee – Frauen. Sein um achtzehn Jahre älterer Partner jedoch ein, zwei sehr enge Freundschaften zu homosexuellen Männern. Auch sie verkehren nicht in der Szene, leben teilweise seit Jahrzehnten ohne ausgeprägte homosexuelle Identität, sondern ihren ganz persönlichen Lebensentwurf, der ihre Sexualität nicht besonders in den Vordergrund rückt.

Warum auch?

«Die sexuelle Neigung», sagt Davids Freund, «ist doch Privatsache.» Der neue Heterochef erzählt seinen Untergebenen ja auch nicht als Erstes, welches Geschlecht er im Bett bevorzugt. «Recht hast du», meint David. Auch wenn er den Arbeitskollegen nie absichtlich verschwiege, wer der Mann war, mit dem er am Sonntagnachmittag Hand in Hand spazieren ging.

Und das ist doch eben, was die so genannte „Normalität“ ausmacht: Sich nicht verstecken; leben wie man ist; sich nicht auf etwas reduzieren lassen; nicht den inneren „revolutionären Drang“ verspüren, sich mit einem Handtuch in Regenbogenfarben abzutrocknen, weil man sonst die „Community“ verrät.

Die Merkmale der Schwulenszene seien, bei Licht betrachtet, gar nicht so anders als die der Heteros, sagt Markus, der sich als «anderen Schwulen» bezeichnet und damit die Konformität meint, die er sich angeeignet hat, um im heterosexuell geprägten Umfeld seiner Branche zu bestehen. Markus ist Mitglied von Network, der Organisation für schwule Führungskräfte der Schweiz. Hier trifft er auf Gleichgesinnte, die ebenfalls «anders schwul» sind; die wie er nur nach langem Überlegen eine Antwort wissen auf die Frage, was denn an ihm dem Klischee des Schwulen entspreche.

Markus ist nun allerdings ein äußerst interessanter Fall. Er bezeichnet sich doch tatsächlich als „anders“, und das nur, weil er nicht dem Klischee des Schwulen entspricht, welches einerseits Heteros, andererseits Teile der Schwulen selbst immerfort kolportieren. Erstaunlich, wie sehr das Bewusstsein, Schwule hätten so und nicht anders zu sein, auch von einigen Schwulen Besitz ergriffen hat; so sehr, dass man sich durch die Blume dafür rechtfertigt, keinem Klischee zu entsprechen und sich quasi damit entschuldigt, der Konformitätsdruck innerhalb der Ebene der Führungskräfte sei dafür verantwortlich.

Keine Spur von Hedonismus. Markus steht mit Disziplin jeden Tag um sieben Uhr auf. Am Wochenende manchmal auch um acht oder halb neun. Lange Feierabendapéros kann er sich nicht leisten. Manche seiner Arbeitskollegen würden ihn als seriös charakterisieren, insgeheim sogar für einen Langweiler halten.

Ist es nicht selbstverständlich, dass es solche Menschen gibt? Irgendjemand muss ja den Wohlstand erarbeiten, damit Staat und Sozialverbände was zum Umverteilen haben. Warum sollte die sexuelle Orientierung etwas daran ändern? Erstaunlich wie sehr das Bild des „hedonistischen“, freakigen, exotischen Schwulen in den Köpfen der Menschen verankert ist, so sehr, dass die NZZ immerfort betonen muss, dass solche Klischees eben nicht unbedingt der Realität entsprechen.

Dass Markus eher die FDP (der Schweiz) wählt, sollte uns angesichts seines Jobs und seiner bürgerlichen Attitüden nicht überraschen. Doch um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, zerstört er nun auch noch Bild, was man sich von den Freizeitaktivitäten der Schwulen gemacht hat. Denn, obacht! Markus geht nicht etwa zu Sexparties, nein, er liest:

In der restlichen Freizeit liest er. Etwas von Noam Chomsky hat er gerade auf dem Nachttisch. «Ein Aussenseiter wie ich», findet Markus.

Obwohl in diesem Fall Sexparties dann wohl doch das weitaus intellektuellere Vergnügen wären. Denn Chomsky ist untragbar, und jeder der seine (politischen) Werke mit Vergnügen liest, hat sich das Recht verwirkt, „bürgerlich“ genannt zu werden.

3 Antworten zu “Bürgerliche Schwule lesen Chomsky”

  1. ach so... 12. Oktober 2009 um 00:08 #

    „Denn Chomsky ist untragbar, und jeder der seine (politischen) Werke mit Vergnügen liest, hat sich das Recht verwirkt, „bürgerlich“ genannt zu werden.“
    Wer so spricht, sollte fürchten, selbst bald vom bürgerlichen ZK die Parteimitgliedschaft entzogen zu bekommen.

  2. Damien 12. Oktober 2009 um 08:37 #

    Wieso, gibt es noch ein ZK außer uns?

  3. Adrian 12. Oktober 2009 um 09:34 #

    Wäre mir auch neu…

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