Raus aus den Dörfern – Rein in die Städte!

21 Nov

… das Dorf war noch nie ein guter Ort zum Leben. Wir haben dort so lange ein sehr schlechtes Leben gehabt und schulden ihm nichts. Wenn wir erst einmal fort sind, werde ich nie wieder hierher zurückkehren.

Dieses Buch ist kein Genuss für die letzten Überlebenden der feministischen Subsistenzwirtschaft aus Bielefeld und auch keiner für die antizivilisatorischen Anhänger der Postapokalypse nach dem Aufstand. Doug Sanders „Arrival City“ verweigert sich dem fatalistischen Blick auf die Migration, den wir von Autonomen, Linksprotestanten und anderen Ideologen gewohnt sind. Nein, Migration ist nicht Menetekel für den drohenden Untergang der herrschenden Weltwirtschaftsordnung, schon gar nicht Anlass, „unseren Wohlstand“ mit anderen zu teilen – als wenn das Bruttosozialprodukt irgendwie begrenzt wäre, sondern schlichter Ausdruck des – realistischen – Wunsches nach einer Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen.

Saunders beschreibt detailliert, wie das Leben in den „Ankunftsstädten“ der Migration häufig von Elend, Schufterei und miserablen hygienischen Bedingungen geprägt ist. Trotzdem ist die Ankunftsstadt für Menschen vom Dorf ersehnte Zwischenstation auf dem Weg in das Gelobte Land der Mittelschicht. Und hier korrigiert Saunders einen wichtigen Fehler in der Betrachtung der Armut in den weltweiten Slums. Es reicht nicht, regelmäßig zu überprüfen, ob sich die Anzahl der Armen in diesen Gebieten verändert hat. Entscheidend ist, ob es immer noch dieselben Armen sind, oder ob die vor zehn Jahren Angekommenen längst durch wirtschaftlichen Aufstieg weitergezogen sind – und die Ankunftsstadt nun für Neuangekommene wieder neue Chancen bietet.

Saunders war vor Ort, in Indien, Kenia, Brasilien, China, Frankreich, Deutschland, Kanada und weiteren Ländern, in denen Ankunftsstädte existieren und hat untersucht, welche Bedingungen erforderlich sind, damit diese Städte ihren Bewohnern wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichen und nicht Stillstand bewirken. Als unabdingbar für wirtschaftliche Entwicklung benennt er u.a.:

  • die Möglichkeit zum Erwerb von Wohneigentum und damit zur Absicherung des Wohnortes, den Schutz vor der jederzeit möglichen Räumung besetzten Landes/Wohnraums,
  • die Möglichkeit, unternehmerisch tätig zu werden und damit zur wirtschaftlichen Autonomie gegenüber Arbeitgebern,
  • die Möglichkeit, mit der Wirtschaft eines Landes in Verbindung zu treten und damit der Abschottung im Slum-Ghetto zu entgehen,
  • Bildung inkl. Durchsetzung der Schulpflicht,
  • Sicherheit, dazu gehören Staatsbürgerschaft, also ein Aufenthaltsrecht sowie Schutz durch Polizei und Justiz,
  • Infrastruktur wie Kanalisation, Busverbindungen zur Stadt.

Das alles erfordert auch städtebauliche Maßnahmen bzw. Unterlassungen. Gut gemeinte Architektur, die keinen Platz läßt für die Durchmischung von Wohnen und Arbeiten, für enge Nachbarschaft als Hilfe zum Durchstarten erreicht das Gegenteil: Kriminalität, Perspektivlosigkeit, eine Rückbesinnung auf in der Heimat längst überwundene konservative und einengende religiöse Dogmen, als Beispiel nennt Saunders Zwangsheiraten und Kopftücher.

Anhand eines Zitats von Salman Rushdie charakterisiert er die Ankunftsstadt. Sie

feiert die Bastardisierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung, die durch neue, unerwartete Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Richtungen, Filmen oder Liedern entsteht.

Sie – und die Satanischen Verse, denn ihnen gilt diese Beschreibung – fürchten

den Absolutismus des Reinen. Melange, Mischmasch, ein bisschen von diesem und ein bisschen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. Hierin liegt die große Chance, die sich durch die Massenmigration der Welt bietet …

Saunders stellt ausführlich Beispiele sowohl für gelingende als auch für scheiternde Ankunftsstädte vor. Er zeigt auf, dass Migration, wenn sie von der Politik ausreichend und passend unterstützt wird, nicht nur für Migranten eine Chance ist und keine Katastrophe, sondern auch für die Länder, in denen die Ankunft stattfindet.

Wer einen unideologischen Blick auf das Phänomen der Migration werfen will, ist mit diesem Buch gut beraten.

4 Antworten zu “Raus aus den Dörfern – Rein in die Städte!”

  1. Yadgar 21. November 2011 um 14:20 #

    „die Möglichkeit zum Erwerb von Wohneigentum und damit zur Absicherung des Wohnortes, den Schutz vor der jederzeit möglichen Räumung besetzten Landes/Wohnraums,“

    An den Erwerb von Wohn*eigentum* ist für die erste Generation von Migranten noch gar nicht zu denken – die sind froh, wenn sie ein versifftes Wohnklo in einer Mietskaserne bekommen!

    „die Möglichkeit, unternehmerisch tätig zu werden und damit zur wirtschaftlichen Autonomie gegenüber Arbeitgebern,“

    Trifft ebenfalls nur für eine Minderheit der Migranten zu – längst nicht jeder hat das Zeug zum Unternehmer (und in Bürokratieregimes, wie sie die meisten heutigen „entwickelten“ Staaten darstellen, wird zwar in allen Talkshows von Eigeninitative und Eigenverantwortung schwadroniert, wirklich erwünscht ist beides aber keineswegs, sondern in der Regel schlicht ordnungswidrig bis strafbar! Die Armen sollen gefälligst apathisch und depressiv mit Dosenbier vor der Glotze versumpfen, so sorgen sie immerhin für den Erhalt von Arbeitsplätzen in der sozialtherapeutischen Betüddelungsindustrie und Einschaltquoten bei den allnachmittäglichen Sozialporno-Shows im Trashfernsehen!).

    „die Möglichkeit, mit der Wirtschaft eines Landes in Verbindung zu treten und damit der Abschottung im Slum-Ghetto zu entgehen,“

    Heißt im Regelfall Arbeit am Rande oder jenseits der Legalität zu absolut miserablen Konditionen, die einen auch nicht aus den Slumverhältnissen herausbringt… dem Billigstlöhner geht es im Slum auch nur unwesentlich besser (wobei man jetzt zwischen Slums der Ersten, Zweiten und Dritten Welt unterscheiden sollte – in einem Erstwelt-Slum lohnt sich Billigstarbeit je nach Sozialgesetzgebung überhaupt nicht, in einem Drittwelt-Slum stellt sie die Rettung vor dem Hungertod dar).

    „Bildung inkl. Durchsetzung der Schulpflicht,“

    D’accord… wird aber gegenwärtig zu Tode gespart und kaputtprivatisiert

    „Sicherheit, dazu gehören Staatsbürgerschaft, also ein Aufenthaltsrecht sowie Schutz durch Polizei und Justiz,“

    Da fallen schon mal alle illegalen Migranten raus – die haben allen Grund, Polizei und Justiz nicht über den Weg zu trauen… und tendenziell wird dieser Bereich ebenfalls totgespart und kaputtprivatisiert.

    „Infrastruktur wie Kanalisation, Busverbindungen zur Stadt.“

    Der Neuankömmling in den Slums sollte nach Möglichkeit für ein gebrauchtes Fahrrad sparen, das ist auf die Dauer viel billiger als der Bus! Abgesehen davon wird der ÖPNV ebenfalls tendenziell totgespart und kaputtprivatisiert…

  2. Adrian 22. November 2011 um 12:42 #

    Yadgar, wusste gar nicht, dass Bildung, Polizei und Justiz, sowie kaputtprivatisiert werden. Seit wann ist denn das alles privat?

  3. Yadgar 22. November 2011 um 14:14 #

    @Adrian
    Ich sagte „tendenziell“ – private Sicherheitsdienste boomen (und das auch nicht erst seit kurzem), Schulgebäude verrotten (weil totgespart!), gleichzeitig gibt es Streit um Schulsponsoring z. B. durch Junkfood- oder Spielekonsolenhersteller. O.k., Privatisierung der Justiz wird im Moment noch nicht angedacht – aber die „Anarchokapitalisten“ von eifrei fänden so etwas bestimmt auch klasse! Liefe auf nichts anderes als Neo-Feudalismus hinaus, für Recht und Gesetz sind dann Warlords und die jeweils meistzahlende Söldnertruppe zuständig… irgendwoher kenne ich das, aus diesem Land mit den hohen Bergen und langen Bärten…

  4. Anonym 22. November 2011 um 15:58 #

    „irgendwoher kenne ich das, aus diesem Land mit den hohen Bergen und langen Bärten…“

    Schweiz?

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