Das neue Jahr fängt ja gut an. Kaum hat man sich von einer rauschenden Silvesternacht erholt, wird einem auf queer.de ein unglaublich kompliziert geschriebener Beitrag präsentiert, der wieder einmal versucht, aus Homosexualität eine Lebensweise, wenn nicht gar eine Revolution zu machen. Schon die Einleitung hat es in sich:
Die Mehrheit der Menschheit ist hetero, daran führt kein Weg vorbei. Wollen wir als Fünfprozent-Minderheit da auf gütige Akzeptanz hoffen, wenn wir uns möglichst heteronormativ benehmen, heiraten, monogam leben und bausparen? Oder kann man nicht besser die Heterowelt von innen sprengen?
Es hat schon etwas von einer narzisstischen Anmaßung sich einzubilden, man könnte als selbsteingestandener „Fünfprozent-Minderheit“ die „Heterowelt von innen sprengen“. Abgesehen davon, dass man es sich wohl etwas zu einfach macht, „die Heterowelt“ alleine mit heiraten, Monogamie und bausparen in Verbindung zu bringen. Denn „die Heterowelt“ gibt es ebenso wenig, wie es „die Homowelt“ gibt und so wird es auch Schwule geben, die bausparen und heiraten wollen, während andererseits auch Heteros sexuellen und finanziellen Ausschweifungen nicht abgeneigt sind. Den Anspruch zu haben, „die Heterowelt“ von innen sprengen zu wollen, kann man insofern nur haben, wenn man ein kollektivistisches Weltbild besitzt, Individualität negiert und überzeugt ist, dass ein bestimmte Lebensweise die einzig richtige für alle Menschen ist.
Der Beitrag eines/einer gewissen Dr. B. Scherer strotzt im folgenden geradezu von Klischees, Verallgemeinerungen und postmodernen Plattitüden. Als Beispiel seien einige Textpassagen zitiert:
„Queer“ stört diese Einschätzung von Lesben, Schwulen, Bis, Trans, Intersex etc. als Minderheit. Stattdessen besagt Queer Theory, dass alle Facetten von Identität (z. B. Mann, hetero, weiß, Deutscher, jung, schlank, mittelklassig, gesund, gebildet, wohlhabend) kulturell und gesellschaftlich konstruiert sind und kein absolutes Dasein besitzen, keine ontologische Essenz; stattdessen treten diese Aspekte lediglich in Erscheinung, wenn sie sich im sozialen Zusammensein ausspielen, wenn Individuen sich mit diesen Kategorien identifizieren; oder besser noch, wenn Individuen diese Identitäten in konkreten Situationen „darstellen“. Das ist, was die berühmte Queer-Denkerin Judith Butler unter „Performativität“ von Identität versteht. Identität als Aufführung, Darstellung, Performanz. […]
Feste Schubladen werden queer-gedacht, gequeert. Das Ergebnis ist ein gewaltiger sozialer Impuls zur Emanzipation und radikalen Befreiung – nicht einfach nur Assimilierung. Die Radikalität von queer stört manche(n) Schwulen- oder Frauenbewegte(n); es gibt genug Schwule, Lesben, Bisexuelle, FeministInnen etc., die sich nicht als queer bezeichnen wollen: Denn bei queer geht es nicht darum, einer zentralen, normativen Mehrheit Minderheitenrechte abzuringen; vielmehr fordert queer das Zerstören der heterosexistischen, geschlechtsbinären patriarchischen Fundamente aller sozialer, kultureller und politischer Diskurse. Warum also für die monogame Homo-Ehe streiten, wenn man die privilegierte Institution „Ehe“ als solche in Frage stellen kann? (Meine Antwort: beides machen! Gepriesen sei der taktische Pragmatismus!). […]
Queer, behaupte ich, ist, was alle Label stört, ohne selbst Label zu sein. Queer ist wie eine mathematische Funktion, die, ausgehend von Fragen der sexuellen Orientierung und Gender, Normativitäten in Frage stellt und aufhebt. Queer ist Einstellung, Disposition, um Normalitäten zu stören, um zwanghaften Vorstellungen über feste Identitätsschubladen Widerstand zu bieten und in der schönen, heilen Hetero- und Cis-Welt querzuschießen. Und nicht nur dort. Queer ist ein Querschläger auch in der schönen, heilen Schwulen Welt mit ihren Normen und Ausgestoßenen: Homonormativität. Das ist alles, was die erfolgreiche Adaption der Homo-Variante von Heteronormativität gefährdet. Oder was nicht Szene-Norm und Begehrlichkeit ist, wie wir das am Samstagabend in der hippen Homodisko sehen: jung, gesund, gut bestückt, nicht tuntig (’straight acting‘ heißt das im Englischen!), normativer Körper und die richtigen Klamotten. Schwule Verlage und Zeitschriften schreiben kräftig an der Homo-Norm mit; wer nicht mitmachen will oder kann, bleibt zu Hause oder geht in die alternative Szene: Auch da gibt es dann Normalitäten und Außenseiter. Der Normalo-Schwule diskriminiert dann die Tunte, die Tucke die Transe, die post-operative Transsexuelle die Prae-op-Transe, der/die Prae-op-Transgender die/den Genderqueer usw. Seufz.
Queer ist der utopische Impuls, der dieser Psychologie der Ausgrenzung des jeweils schwächsten Gliedes entgegentritt, der dem Unsichtbaren Stimme und Sichtbarkeit verleiht und uns aus dem Gefängnis unserer Identitätskonzepte ausbrechen lässt. Oder wollen wir wirklich in der schönen, heilen schwulen Welt solange Champagner trinken, bis uns die Zentrifugalkräfte unseres Lebensweges auch dort aus der Mitte an den Rand und an den Abgrund treiben? Wenn/wann normal-schwul versagt, brauchen wir vielleicht doch auf einmal queer.
Ich werde mir an dieser Stelle nicht die Mühe machen, den ganzen Text zu analysieren und zu kritisieren. Zugegeben, es finden sich einige durchaus akzeptable Gedanken in diesem Wust an Wörtern. Ich bezweifele nicht mal, dass Scherer im Grunde genommen mein obig aufgeworfenes Fazit nicht teilt, er wollte der Welt eine bestimmte Lebensweise aufzwingen. Dagegen spricht bspw. folgender Absatz:
Was passiert, wenn es keine Mitte gibt? Wenn Oma Peterchen beim Kaffeekränzchen nicht nach einer Freundin fragt, weil sie von der heterosexuellen Norm ausgeht? Was passiert, wenn man/frau nicht nur die Zwangs- und Standard-Rubrik für sexuelle Orientierung in Frage stellt, sondern auch andere Identitätskategorien wie Gender, Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus, usw.? Queer passiert! Keine Mitte mehr. Keine Norm, die vorschreibt, wer man sein muss! Leben passiert, und passiert in seiner ganzen Offenheit, Fülle und Chaos, dem „offenen Netzwerk von Bedeutungs-Möglichkeiten, -Lücken, -Überlappungen, -Miss- und -Widerklängen, -Ausrutschern und -Ausschweifungen“. (Eve Sedgwick, neben Judith Butler die andere Mutti der Queer Theory, schreibt dies 1994 in ihrem Buch „Tendencies“)
Das Problem an dieser vordergründig libertinistisch-individualistischen Utopie ist, dass sie Unterschiede negiert, dass sie gleich macht was nicht gleich ist, dass sie Normen verwirft ohne nach einem möglichen Sinn von Normen zu fragen.
Denn was soll es eigentlich bedeuten, Hautfarbe, Klasse, Behinderungsstatus etc. in Frage zu stellen? Soll das heißen, sich hinzustellen und zu behaupten, man sei nicht weiß, sondern habe eine schwarze Hautfarbe? Man sei nicht untere Mittelklasse, sondern Bourgeoisie? Man sei nicht querschnittsgelähmt, sondern so wie alle anderen?
Es ist natürlich verständlich und verführerisch, als Minderheit eine Welt zu postulieren, in der es eigentlich keine Minderheiten und Unterschiede gibt, keine Normen, keine Kategorien. Verführerisch auch die Theorie, eigentlich seien alle Menschen gewissermaßen pansexuell und würden nur durch soziale und gesellschaftliche Konstruktionen in bestimmte, zumeist heterosexuelle Richtungen, gezwungen. Denn wenn dem so sei, ist man als Homo eigentlich keine Minderheit mehr, sondern nur eine Mehrheit in spe.
Aber was spricht eigentlich für diese Annahme? Und ist nicht der schwul-lesbische Mensch, der sich im schmerzhaften Prozess der gesellschaftlichen Anerkennung seiner Sexualität bewusst wird, das ultimative Gegenargument? Fühlen wir denn „pansexuell“? Stehen wir auf alles und jeden? Welche gesellschaftlichen Einflüsse führen uns denn zur Homosexualität? Warum sind gerade wir so „revolutionär“ der allgegenwärtigen Heteronormativität zu entkommen?
Ich für meinen Teil, weiß dass ich in einer heterosexuellen Welt lebe. Den Grund hierfür sehe ich ganz simpel darin, dass die meisten Menschen heterosexuell sind. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch einmal gleichgeschlechtlich betätigen können. Aber lieben und sich verlieben? In jedes Geschlecht? In jeden Menschen? Eine Welt voller Bisexueller, also? Man mag mir verzeihen, aber weder ich fühle so, noch habe ich den Eindruck, dass der Rest der Menschheit so fühlt, so fühlen kann.
Es mag zuweilen schmerzlich sein, aber eine Minderheit zu sein, ist so schlimm auch nicht. Individualität bedeutet, Unterschiede anzuerkennen und sie als Teil der Pluralität des Lebens zu akzeptieren. Aber zu versuchen, diese Unterschiede einzuebnen, diese als nichtexistent, als Konstruktion zu betrachten, halte ich in höchsten Maße für absurd. Ganz einfach, weil es der Lebensrealität widerspricht. Und weil Kategorien nützlich sein können. Weil Menschen eben nicht gleich sind. Sondern gleichwertig.
Sagst du auch, dass sich Frauen (von Natur aus oder warum auch immer) einfach besser um Kinder kümmern können als Männer, weil es viel mehr Erzieherinnen gibt als Erzieher?
Allein dass du im Zusammenhang mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen wie der Queer Theory von einem Widerspruch mit der „Lebensrealität“ schreibst… Das spricht doch schon Bände und eigentlich erübrigt sich jede Diskussion.
„Sagst du auch, dass sich Frauen (von Natur aus oder warum auch immer) einfach besser um Kinder kümmern können als Männer, weil es viel mehr Erzieherinnen gibt als Erzieher?“
Nein, das sage ich nicht.
„Allein dass du im Zusammenhang mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen wie der Queer Theory von einem Widerspruch mit der “Lebensrealität” schreibst…“
Ich schrieb das im Zusammenhang mit der Dekonstruktion von Kategorien.
„Das spricht doch schon Bände und eigentlich erübrigt sich jede Diskussion.“
Nun, wenn ich so unbelehrbar bin, warum kommentierst Du dann? Du hättets jetzt die einmalige Gelegenheit, mich mit den Grundlagen der Queer-Theorie vertraut zu machen, meien Kritik zu kritisieren und mein Bewusstsein zu erweitern. Unter anderem dafür schreibe ich das hier. Um Gedanken zu teilen und auszutauschen.
Was sagt denn der Zustand von etwas (Sozialem) aus? Nichts. Außer, dass sich dieser Zustand aus irgendeinem Grund über die Zeit entwickelt und überlebt hat und vielleicht sogar zur Norm geworden ist.
(Und weil ich glaube, dass da jetzt was in die Richtung kommt: Die Frage nach der Sexualität ist viel mehr sozial als „biologisch“. Wo war und ist der soziale Druck größer, als bei der Frage, welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt?)
Gerade wenn es um etwas so Soziales geht, kann man nicht so einfach sagen, dass die Dinge „sind“. Soziale Dinge „sind“ wie sie „sind“, weil irgendwelche sozialen Mechanismen über Zeit gewirkt haben, die diesen Zustand herbeigeführt haben (Privilegien bspw.). Das heißt aber nicht, dass das der Wahrheit, dem Sinn des Lebens oder der Absicht von irgendjemandem entspricht.
Und das ist die Grundlage für SozialkonstruktivistInnen und Queer TheoretikerInnen: Alles Soziale ist konstruiert. Es gibt keine Objektivität.
Es ist wirklich schwer, das alles in Worte zu fassen. Dazu kommt, dass ich selbst nicht so viel Ahnung von der Materie hab. Aber ich glaube schon, dass man wenigstens ungefähr wissen sollte, worum es geht, bevor man jemanden zerreist.
„Ich schrieb das im Zusammenhang mit der Dekonstruktion von Kategorien.“
Und was sind Kategorien? Soziale Konstrukte über die soziale Wirklichkeit.
„Wo war und ist der soziale Druck größer, als bei der Frage, welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt?“
Und was heißt das? Dass jeder jeden lieben kann? Jeder jeden attraktiv findet?
„Alles Soziale ist konstruiert. Es gibt keine Objektivität.“
Nun, dann ist die Queer-Theorie auch nicht objektiv. Sondern nur eine Konstruktion.
„Aber ich glaube schon, dass man wenigstens ungefähr wissen sollte, worum es geht, bevor man jemanden zerreist.“
Du hast Recht, ist weiß nicht was präsentierter Text für eine konkrete Intention hat.
Danke für den Link. Die Queer Theory ist echt so ein Ding für sich… einerseits ist es ein interessanter Blick über den Tellerrand bzw. mal ne andere Perspektive, sich zu überlegen, das so manches an dem, was eine Identität ausmacht, konstruiert ist usw.
Nur dass etwas konstruiert ist, bedeutet noch lange nicht, dass es deshalb nicht existiert. Soweit ich weiß, ist dies zwar keine Behauptung der Queer Theory als solcher, wird aber oft entsprechend missverstanden. Die Farbbezeichnungen Grün, Gelb, Blau usw. sind ja auch „konstruiert“ und willkürlich bestimmten Wellenlängen zugeordnet. Sie machen auch nur Sinn in Abgrenzung zueinander, zumindest im Hinterkopf hat man das Wissen um andere Farben, wenn man etwa eine Banane als „gelb“ bezeichnet. In manchen Gesellschaften ist die Farbpalette übrigens anders aufgeteilt als bei uns. Oha. Und trotzdem „funktioniert“ diese Übereinkunft, wenn etwa der Vorarbeiter dem Helfer sagt, er soll das „gelbe Pulver“ in die „grüne Tonne“ schütten.
So weit, so gut. Problematisch finde ich allerdings mehrere Punkte bei der Queer Theory bzw. noch mehr bei ihren Anhängern:
1. Eine gewisse Arroganz. Wer Kategorien als soziale Konstrukte ansieht, sieht die Welt von einer anderen Perspektive als wer Kategorien als „essentiell“ ansieht, als etwas, das sie von sich aus sind. Aber ist diese Perspektive nun soviel fortschrittlicher und besser als die andere? Und gäbe es da nicht einen Mittelweg?
Mir persönlich ist jedenfalls bisher bei Begegnungen mit Gender Theory-Vertretern eine Menge Arroganz gegenüber Nichteingeweihten (nicht nur mir) entgegengekommen, und oft auch eine süffisante Herablassung mit Korrekturdrang, wenn man diesen verschwurbelten Insider-Sprachcodex nicht beherrschte/benutzte. Das hatte echt was von Missionaren an sich, die den „dummen Negern“ etwas erklären wollten, damit sie nicht mehr so primitiv sind. Ich denke nicht, dass alle Gendertheorie-Fans so drauf sind, aber bei deinem verlinkten Text, Adrian, geht ja auch einiges in die Richtung.
2. Schmücken mit fremden Federn. Nicht erst die Gender Theory der letzten 2-3 Jahrzehnte hat entdeckt, dass ein Mensch in verschiedenen sozialen Zusammenhängen existiert, von denen gleichzeitig der eine privilegiert und der andere diskriminiert wird, und dass es dazwischen Grauzonen gibt, und dass soziale Normen sich ändern können und Identitäten Konstrukte sind. Es gab z. B. schon schwarze Frauenrechtlerinnen im 19. Jahrhundert in den USA, die die doppelte Unterdrückung als Frau und Schwarze zu Papier brachten, und Mulatten auch in der Zeit, die als Weiße durchgehen konnten und über ihr Doppelleben schrieben und so weiter. Mir scheint das wie ein Verschleierungsmanöver, wenn man das Label „Queer“ auf die Theorie draufpappt, ohne auf diese Vorreiter hinzuweisen.
3. Die Unterschlagung des Biologischen. Klar, wir sind nicht (nur) durch unsere Biologie bestimmt. Dennoch kommt es mir arg dogmatisch und realitätsfern vor, wenn die Biologie komplett rausgenommen wird bei dieser Theorie. Zum Beispiel, dass erwachsene Frauen im Durchschnitt (!!) dem „Kindchen-Schema“ näher sind als erwachsene Männer und entsprechend schon instinktiv von anderen etwas anders behandelt werden, lässt sich nicht aus einer Gesellschaft ausmerzen, bei der das Kindchen-Schema noch trägt. Dieses wiederum ist aus gutem Grund genetisch verankert, ansonsten würden viel mehr Babies in der Tiefkühltruhe landen.
4. Die Vereinnahmung diverser Gruppen für ihre Theorie. Ist ja schön, dass der verlinkte Text was von „radikaler Befreiung“ erzählt. Bei meinen persönlichen Begegnungen mit Queer-Theory-Anhängern hatte ich es jedoch leider überwiegend mit einer Art Gesinnungspolizei zu tun, die andere Leute dazu „radikal befreien“ wollten, ihren Lebensstil, Auftreten etc. gefälligst an die Vorstellungen des jeweiligen Anhängers anzupassen.
5. Und was mich besonders nervt, ist die dogmatische Errichtung von Tabus und Unterstellung von Motivationen wie etwa hier (ich zitiere aus dem verlinkten Text):
„Vielmehr zeigt Queer Theory, dass die Frage nach dem Warum von sexueller Orientierung und Gender-Nonkonformismus aus ganz speziellen gesellschaftlichen Umständen erwächst – aus der Vorstellung, dass jeder Mensch in eine feste Standard-Norm passt und passen muss.“
So, man darf also nicht nach dem „Warum“ fragen, weil diese Frage laut der Theorie nur aus einer nicht theoriekompatiblen Gesinnung stammen könne und sich daher nicht gehört. Aha. Erinnert ihr euch an eure Kindheit? Warum geht Mohn ganz auf, aber nicht Tulpen, wenn sie blühen? Warum wird aus einem Löwenzahn eine Pusteblume? Warum trägt Tante Frieda ein T-Shirt mit Tiger drauf? Sind solche Fragen alle aus Normzwang entstanden?
Ein wenig sehr spät kommentiert, aber dir, Adrian, ein BRAVO! für diesen ersten Beitrag im neuen Jahr.
Was mich an der Queer-Theorie am meisten stört ist, dass sich für mich: „Queer passiert! Keine Mitte mehr. Keine Norm, die vorschreibt, wer man sein muss!“ in letzter Instanz verlogen und unkritisch ist.
Denn die Richtung der Kritik geht eindeutig gegen die heterosexuelle Mehrheit der Bevölkerung. Genau diese Mehrheit, an der gar kein Zweifel bestehen kann, ist demzufolge das Produkt einer „sozialen Konstruktion“.
Und weil dem so ist, ist sie auch reversibel – das ist m.E. der springende Punkt der politischen Agenda.
Die „Utopie“ ist in meiner Sicht ein sehr einseitiger Änderungsbedarf, der auf Seiten der Mehrheit der Bevölkerung verortet wird – dem man zugleich unterstellt, eigentlich gar nicht zu existieren.
Kein heteronormativer Zwang = keine Heterosexualität.
Es wäre politisch wesentlich klüger und ehrlicher, die Akzeptanz von homosexuellen Orientierungen von der Mehrheitsgesellschaft einzufordern auf der Basis der Akzeptanz der Realität, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht willkürlich ihre sexuelle Orientierung ändern wird, weil sie es nicht KANN.
Und das leitet mich zu der m.E. entscheidenden Frage an diese Theorie: Warum ist ausgerechnet Homosexualität NICHT das Produkt einer sozialen Konstruktion?
Denn an diesem Punkt herrscht Klärungsbedarf – wenn sexuelle Orientierung per se eine soziale Konstruktion ist, dann natürlich auch die Homosexualität.
Warum aber sollte Homosexualität als soziale Konstruktion einer sexuellen Orientierung irreversibel sein, wenn es die heterosexuelle (Norm) definitiv ist?
Und warum sollte ausgerechnet Homosexualität dann irreversibel sein?
Implizit behauptet die Queer-Theory eine Ausnahme von dieser Regel der gesellschaftlichen Kunstruiertheit einer sexuellen Orientierung, deren verborgene Grundlagen sie sich aber nicht stellen mag…
Mich beunruhigt, dass hier eine Theorie im fortschrittlichen Gewand auftaucht, die in letzter Instanz reaktionär ist.
Wo ist denn der fundamentale Unterschied zu der kreuz.net Argumentation, schwul sein sei unnatürlich und heilbar?
Ich mag Frauenkörper, fühle mich von diesen angezogen und meine sexuelle Identität bestimmt sich aus genau diesem Umstand, dass meine Sexualität eine heterosexuelle ist.
Es macht für mich keinerlei Sinn, wenn eine Theorie mir unterstellt, meine körperlichen Bedürfnisse seien eigentlich ganz andere, die ich nur nicht wirklich kenne, weil mein Begehren eine soziale Konstruktion ist.
Das empfinde ich als paternalistische Bevormundung.
Wo ist der Segen in der Befreiung von der „heteronormativen Norm“, wenn die Vertreter und Vertreterinnen des „emanzipativen“ Lagers ein schlechtes Gewissen durch das nächste austauschen – dass man nämlich einer Norm nicht entsprechen kann, weil die individuelle Verfasstheit leider nicht so ist?!
Und wieso ist es akzeptabel, dass das Pappschild „fortschrittlich“ ausgerechnet an Gegebenheiten aufgehängt wird, auf deren Eintreffen man als Individuum durch eigenes Handeln keinerlei Einfluss hat?
Und was mich ebenfalls ärgert:
„Queer ist ein Querschläger auch in der schönen, heilen Schwulen Welt mit ihren Normen und Ausgestoßenen: Homonormativität. Das ist alles, was die erfolgreiche Adaption der Homo-Variante von Heteronormativität gefährdet.“
Warum problematisiert die AutorIN eigentlich nicht LESBONORMATIVITÄT?
Gibt es keine Lesbenwelt mit Normen und Regeln?
Kann ich mir nicht vorstellen.
Es ist aber arg auffällig, den Schwulen zu unterstellen, sie würden die Heteronormativität quasi als KOLLABORATEURE unterstützen, während die heile Welt der Leben selbstverständlich Hort des Widerstands ist.
Wie wir alle wissen, sind Lesben auch die Hauptverfolgten des Nazi-Regimes gewesen.
Wenn du dem nicht zustimmst, bist du sehr wahrscheinlich nicht queer genug. 😉
Lieben Gruß und alles Gute im neuen Jahr, crumar
@ Robinium und crumar
Danke für die anregenden Gedanken 🙂 Frohes Neues 🙂
Ich stimme Christian (allesevolution) zu: Prädikat lesenswert!
Der (für mich) wichtigste Abschnitt sind folgende zwei Sätze:
Es mag zuweilen schmerzlich sein, aber eine Minderheit zu sein, ist so schlimm auch nicht. Individualität bedeutet, Unterschiede anzuerkennen und sie als Teil der Pluralität des Lebens zu akzeptieren.
Ich gehöre z.B. dieser ominösen Mehrheit „weiss, hetero, männlich“ an, aber gerade das sind Punkte, über die ich mich nicht „definiere“, weil mir die (meine) Individualität gerade in der Abgrenzung zur gesichtslosen Mehrheit wichtig ist.
danke adrian, guter text!
Vorweg, ich bin hetero, weiß und männlich. Ich stamme ursprünglich eher aus dem „linken“ Lager, hab mich dann zunehmend libertären Ideen zugewandt – und muss teilweise festellen, dass ich sogar in gewisen Teile eher konservative Ansichten annehme… 😉 GayWest finde ich nun sehr erfrischend, und konkret dieser Eintrag passt mir sehr gut. Und vor allem der Kommentar von crumar spricht mir aus der Seele.
Es ist vollkommen menschlich, seine Umwelt zu kategorisieren und „Normalität“ zu definieren. Und ebenso ist es vollkommen normal, dass die Menschen unterschiedlich sind. Und es welche gibt, die in gewissen Dingen eher Minderheiten entsprechen. Das ist aber an sich nicht schlimm! Es gibt keinen Grund das alles „abschaffen“ zu wollen. Ziel muss es nur sein, dass ein Mensch nicht weniger wert ist, weil er anders ist! Aber der Versuch, ihn „gleich machen“ zu wollen, oder die Kategorisierung, die für die andersartigkeit sorgt, abzuschaffen, ist zum Scheitern verurteilt bzw. ist es vor allem unmenschlich das überhaupt erreichen zu wollen.
Die Behauptung, das alles sozial konstruiert ist, entspricht doch einfach nicht der Realität, wenn sie dermaßen das biologische einfach komplett leugnet. Und auch bei den Dingen, die sich (aufgrund biologischer Unterschiede) über Jahrhunderte oder gar Jahtausene kulturell entwickelt haben, gibt es zunächst mal keinen Grund, das jetzt alles über Bord schmeißen zu müssen. Wobei ich jetzt hier eher in Richtung Feminismus/Geschlechterrollen denke, aber das gehört ja letztlich alles zusammen. Sind die QueerTheoretiker/…(bzw. viele aus einem ähnlichen Spektrum)/… der Meinung, dass es erst dann keine Geschlechter- oder Homo-Diskrimierung mehr gibt, wenn die Forschung so weit ist, dass auch Männer KInder gebären und stillen können?
crumar hat da einen Punkt genannt, der mir genauso auch schon aufgefallen ist, nämlich die Parallelen zur kreuz.net-Argumentation. Feminismus/GenderTheories/etc. wird ja auch schon zu einer Art Religion. Wo ist der Unterschied wenn:
a) eine lesbische Frau von religiösen Führern eingetrichtert bekommt, dass sie ihren Gefühlen nicht nachgeben darf, dass diese nicht natürlich sondern krankhaft sind, dass es Sünde ist, dass sie lernen muss diese zu überwinden und stattdessen versuchen sollte, sich auf einen Mann einzulassen
und
b) eine Hetero-Frau sich beim Sex gerne dem Mann unterwirft, keine Lust auf Karriere hat und gerne Mutter und Hausfrau ist, von religiösen Führern eingetrichtert bekommt, dass sie ein Opfer patriachaler Herrschaftsstrukturen ist, daher ihre Gefühle hinterfragen und diese überwinden sollte.
Zu Julian: „Sagst du auch, dass sich Frauen (von Natur aus oder warum auch immer) einfach besser um Kinder kümmern können als Männer, weil es viel mehr Erzieherinnen gibt als Erzieher? “ Ursache und Wirkung verdreht. Offenbar liegt Frauen das sich „um Kinder kümmern eher“ (und ja, ich böser „Biologist“ sage, dass das durchaus auch biologischer Ursachen hat), und daher haben sie eher Interesse am Beruf des Erziehers. Wobei ich es komisch finde, dass es sehr wenige Aktionen in Richtung „Mehr Jungs in die pädagogischen Berufe!“ gibt (obwohl da gerade in der Grundschule es durchaus sinnvoll für die Kinder wäre), aber durchaus solche für „Mehr Mädchen in technischen Berufen!“.
Soll doch einfch jeder das machen, worauf er Lust hat! Und niemanden als Mensch abwerten, nur weil er anders! Aber wir müssen nicht die komplette Gesellschaft umkrempeln und alles abschaffen, an dem sich die Menschen orientieren.
Der Unterschied ist aber, dass in dem einen Fall keine Wahl gelassen werden soll und im anderen schon.
Eine Frau die so ist wie du beschreibst, wird vielleicht von Karrierefrauen oder bestimmten Feministen Kritik ernten, aber niemand wird sie aktiv daran hindern, ihr Leben so zu leben wie sie will.
Bei Homosexuellen ist das anders. Da reicht es nicht zu sagen „Hey, ich rate dir, deine homosexuellen gefühle zu hinterfragen“, sondern es soll praktisch keine Alternative geben. Bei Kreuz.net wurde sogar die Rekriminalisierung propagiert.
Gibt es irgendwo in den weiten des radikalen Feminismus Vorschläge, das Hausfrau-Dasein unter Strafe zu stellen? Ich würde mal sagen nein.
Vielleicht sollte man kreuz.net rausnehmen, weil die ja (auch wenn es um ein ernstes thema ging) eigentlich nicht ernst zunehmen waren. Gehen wir stattdessen von den „netten, aber dennoch strengen“ Katholiken aus. Die also sowas sagen wie: „Gott liebt alle Menschen, auch die Homosexuellen, man kann niemandem vorwerfen, diese Neigungen zu haben. Aber sie auszuleben wäre eine Sünde, und der Betroffene würde auch langfristig nicht glücklich werden, deshalb sollte er versuchen, zu einer normalen Sexualität zu finden“. Dann sind die Unterschiede schon nicht mehr so groß.
Nein,ich kenne keine Vorschläge, Hausfrauen-Dasein unter Strafe zu stellen. Aber hier zeigt sich dann doch wieder, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn es um das Thema Sexismus, Rassismus oder Homophobie geht, dann werden da nicht nur institutionalisierte Dinge kritisert, stattdessen reichen da schon manchmal gewisse Bemerkungen, „gesellschaftliche Stimmungen“, Sprache, und jeder Kleinkram im Alltag. Und wenn z.B. jemand sagt (das ist jetzt übrigens nicht unebdingt meine Meinung) „Ich denke es ist für ein Kind am besten, wenn es mit Vater und Mutter aufwächst, und daher bin ich gegen ein volles Adoptionsrecht für Schwule und Lesben“ dann wird das schnell als „homophobe Hetzrede“ beschimpft. Aber Ansichten der Gegenseite sollen grundsätzlich toleriert werden, solange nicht von Zwang die Rede ist? Ich habe mal auf der Website einer jungen Grünen sowas in der Art gelesen, dass es sehr schade wäre, dass selbst viele junge Frauen sich gegen eine berufliche KArriere entscheiden und sich mit der Rolle der Hausfrau und Mutter zufrieden gäben. Man stelle sich vor, eine Frau der jungen Union würde sagen, dass sehr schade wäre, dass viele Frauen so Karrierefixiert sind anstatt eine Familie zu gründen und sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Da gäbe es wohl heftigere Reaktionen. Wobei, sowas ähnliches gab es ja schon bei Eva Herrmann – die hat dann auch schnell von manchen das Etikett „Nazi“ bekommen…
Konkret habe ich übrigens das hier im Netz gefunden:
http://wolfsmutter.com/modules.php?name=Forum&Number=188451&PHPSESSID=f7cbb9bfb4e2405b2056d3b4d68038ac
Und zwar die Beiträge von „Roter Rubin“. Sie schreibt da sinngemäß, dass BDSM-Neigungen wohl meist traumatische Ursachen hätte, dass sie solche Phantasien auch mal hätte aber es ihr nicht gut tue, und dass das propagieren von BDSM dazu führt, dass Frauen das ausprobieren wollen, die das sonst nicht getan hätten, was letztlich frauen verachtend wäre.“ Man erstetze „BDSM“ durch „Homosexualität“, und das „feministische Grüße“ durch „Gott segne dich“…
Ok, ist jetzt ein extremes,ausgewähltes Beispiel einer Person, aber die Tendenz dazu besteht durchaus. Wenn man sich zum Ziel setzt, die Heteronormativität bekämpfen zu wollen, dann kann das dazu führen, dass man die Menschen, die dieser entsprechen, auch bekämpft. Es ist nicht sehr zielführend, wenn man sich von einer alten Ideologie befreien will, indem man sie einfach durch eine neue Ideologie ersetzt.
Der Druck und die sozialen Konsequenzen ist trotzdem nicht zu vergleichen.
Beim Rest sind wir wieder bei der freien Meinungsäußerung.
„dass es sehr schade wäre, dass selbst viele junge Frauen sich gegen eine berufliche KArriere entscheiden und sich mit der Rolle der Hausfrau und Mutter zufrieden gäben. Man stelle sich vor, eine Frau der jungen Union würde sagen, dass sehr schade wäre, dass viele Frauen so Karrierefixiert sind anstatt eine Familie zu gründen und sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Da gäbe es wohl heftigere Reaktionen. Wobei, sowas ähnliches gab es ja schon bei Eva Herrmann – die hat dann auch schnell von manchen das Etikett “Nazi” bekommen…“
Beides ist freie Meinungsäußerung. Und bei beidem besthet die Möglichkeit, zu widersprechen. Auch heftigere.
Heisst trotzdem nicht, dass der besagten Frau irgendwie Steine in den Weg gelegt werden.
Die Hermann hat den Nazistempel deshalb bekommen, weil sie in etwa gesagt hat „Unter Adolf war nicht alles schlecht. Der Familiensinn war gut“ oder so ähnlich. Das geht in Deutschland halt nicht ohne einen Shitstorm ersten Ranges auszulösen. Kein wie auch immer gearteter Nazibezug.
@Adrian
Das hat jetzt nichts mit dem Thema zu tun, aber mit dem Thema „schwul“. Ich fand den Artikel ganz interessant.
http://www.iwwit.de/blog/2013/01/die-sehnsucht-nach-mannlichkeit/