Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine Orientierungshilfe zum Thema „Familie“ veröffentlicht. Darin finden sich bemerkenswerte Erkenntnisse, die endlich auch in der Kirche angekommen zu sein scheinen:
Eine breite Vielfalt von Familienformen ist, historisch betrachtet, der Normalfall. Die bürgerliche Familie als Ideal entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert durch die Trennung von männlicher Erwerbswelt und weiblicher Familiensphäre mit Haushalt und Kindererziehung.
Von der Kirche erwartet man allerdings mehr als soziologische Betrachtungen und so äußert sich die Orientierungshilfe auch zur Frage der biblischen Begründbarkeit unterschiedler Formen familiären Zusammenlebens:
Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben. Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entsprechen nicht der Breite des biblischen Zeugnisses.
Konkret heißt es in dem Papier:
„Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Gesellschaft und Staat erfahren.“ Familie seien neben „Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern“ auch „die sogenannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung“.
Nicht ganz überraschend gibt es von evangelikaler Seite Widerspruch hierzu. Michael Diener, der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz,
kritisiert in einer Stellungnahme, dass der Orientierungshilfe die „biblische Fundamentierung“ fehle.
Er meint damit, dass die Orientierungshilfe nicht seinen Vorstellungen „biblischer Fundamentierung“ und denen seines Verbands entspricht. Diener ignoriert jedoch, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was „biblische Fundamentierung“ ist.
Deshalb werde sie dem Anspruch nicht gerecht, „evangelische Orientierung“ zu bieten.
Diese Aussage entbehrt nicht einer gewissen Arroganz. Denn selbstverständlich bietet die Orientierungshilfe all jenen Protestant_innen Orientierung, die mit dem Vorstellungen ihrer Kirche über die Vielfalt biblischer Bilder konform gehen. Wenn Diener erklärt, das
EKD-Papier enthalte eine auffällige Abwertung sogenannter „bürgerlicher Ehe- und Familienverständnisse“
frage ich mich, wieso die Ergänzung eines bisher eindimensionalen Ehe- und Familienverständnisses eine Abwertung dessen bisherigen Inhalts implizieren soll.
Erschreckend finde ich den folgenden Satz Dieners,
Offensichtlich soll jeder Schein einer Diskriminierung der vielfältigen familiären Lebensformen vermieden werden.
der offenbar keine Beschreibung sein soll, sondern eine Kritik dahingehend formulieren will, dass es Aufgabe der evangelischen Kirche sei, Diskriminierung zu propagieren und zu praktizieren.
Doch was hat der Einsatz für die Diskriminierung von Menschen, die in Vielfalt ihre Liebe und Verantwortung füreinander leben, mit der Nachfolge des Mannes aus Nazareth zu tun?
@ Damien: Was du übersiehst: Objektiv bedeutet die Ausweitung des Ehe- und Familienverständnisses natürlich keine Abwertung des bisherigen Inhalts. Muss man nicht drüber diskutieren. Aus der subjektiven Sicht Michael Dieners ist das aber durchaus so. Auch wenn ich kein Freud-Fan bin, fällt mir da der Begriff „narzisstische Kränkung“ ein. Dieners idealisiertes Selbstbild und sein Bild, wie eine Familie aussehen sollte, geht da plötzlich nicht mehr mit der Realität konform. Es handelt sich hierbei offenbar um eine ähnliche Kränkung, wie sie Rassisten erfahren, wenn Schwarze nicht mehr hinten im Bus sitzen müssen.
@bluefisk: Danke für die Ergänzung! Das lässt sich gut nachvollziehen, auch ohne Freud-Fan zu sein.
@bluefisk: Vermutlich könnte Diener seine Behauptung über die Abwertung nicht einmal begründen, denn er kann sich wohl schlecht auf seine „narzisstische Kränkung“ berufen. 😉 Zu Deiner These passt Dieners Kritik an der Orientierungshilfe, hier
– man könnte sich ja an Dieners Stelle auch mal fragen, ob es nicht merkwürdig ist, wenn der eigene Verein offenbar nicht mehr auf dem Boden der Verfassung steht. Natürlich kann man das BVerfG kritisieren, aber die Selbstverständlichkeit, mit der von evangelikaler Seite aus die eigene Meinung regelmäßig zur einzigen Wahrheit erklärt wird, finde ich immer wieder unangenehm.
@ Damien: So viel Selbstreflexion ist einem Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz doch kaum zuzumuten… Aber stattdessen fragt er sich bestimmt, warum das BVerfG nicht mehr auf dem Boden der Bibel steht…
@bluefisk: Ich glaube, ich bin bei Diener besonders frustiert über derartige Äußerungen, weil es nach seiner Wahl zum Allianz-Chef Hoffnungen gab, er würde einen weniger extremen Kurs als sein Vorgänger fahren. Davon ist leider nichts zu spüren.