Die Situation für Homosexuelle in Russland wird zusehends schwieriger. Homosexuelle Eltern müssen nach der neuen Gesetzeslage ihren Kindern vermitteln, dass die eigene Familie nicht normal ist. Die WELT berichtet darüber am Beispiel einer jungen Familie:
Die Sicherheit für sie und ihre Tochter hat für sie jetzt die oberste Priorität. Das Paar versucht, sich innerhalb einer kleinen, sicheren Welt zu bewegen. Ein Auto, damit man nicht in die U-Bahn steigen muss.
Eine Eigentumswohnung, denn kaum jemand ist bereit, eine Wohnung an ein gleichgeschlechtliches Paar zu vermieten.
Wer da nicht das Geld hat, eine Eigentumswohnung zu kaufen, ist aufgeschmissen. Von wegen Paradies der Werktätigen!
Alexandra arbeitet als Universitätsdozentin und erzählt den Kollegen nichts über ihre Homosexualität und ihre Familie. Sie lügt Menschen nicht direkt an, doch verhält sich an dem Prinzip „Nichts fragen, nichts erzählen“.
Man kann sich vorstellen, was solch eine Atmosphäre für Auswirkungen auf die Psyche der beteiligten Mütter hat.
Anna, vom Beruf Musiklehrerin, ist die biologische Mutter von Alissa. Für Behörden und Ärzte ist sie eine alleinerziehende Mutter. Alexandra existiert nach dem russischen Gesetz für die Tochter nicht. Sie würde sie nicht aus dem Kindergarten abholen dürfen.
Jeder Polizist könnte auf der Straße fragen, was sie mit dem Kind macht. Sie darf die Tochter nicht adoptieren und bekommt höchstens eine Vollmacht, wie ein Kindermädchen sie bekommen kann. Vor kurzem ist Alissa krank geworden und musste für einen Tag ins Krankenhaus mit Anna.
„Das war eine schwierige Situation, weil ich auf einmal erklären musste, wer ich bin und warum ich hier sein darf“, erzählt Alexandra. Die Putzfrauen haben sie aus dem Krankenhaus verwiesen. Je älter Alissa wird, desto mehr Probleme wird die Familie bekommen.
In Kindergärten und Schulen werden immer mehr Fragen gestellt. Und da Homosexuelle ins Visier des russischen Parlaments geraten sind, haben Anna und Alexandra immer größere Angst, dass ihnen ihre Tochter weggenommen werden könnte.
In der vergangenen Woche hat der russische Präsident Wladimir Putin ein Gesetz unterschrieben, das gleichgeschlechtlichen Paaren aus dem Ausland eine Adoption russischer Kinder verbietet.
„Das Kind muss eine Mutter und einen Vater haben“, sagte Sergej Schelesnjak, ein Abgeordneter der Regierungspartei „Geeintes Russland“, während das Gesetz diskutiert wurde. „Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Familien aufwachsen, bekommen ein ernsthaftes Trauma.“
Das ist zwar erwiesenermaßen Blödsinn, aber was soll’s, wenn sich damit Vorurteile bedienen lassen? Doch damit nicht genug, jetzt wird ernsthaft diskutiert, Eltern ihre Kinder wegzunehmen:
Die Leiterin des Familienausschusses Misulina erklärte, sie prüfe rechtliche Möglichkeiten, gleichgeschlechtlichen Familien in Russland die Kinder wegzunehmen.
Und das soll dann kein Trauma verursachen? Überhaupt, der Druck, unter dem homosexuelle Eltern und damit auch ihre Kinder aufgrund der neuen Gesetzeslage stehen, muss furchtbar sein:
Das Gesetz über „Schwulenpropaganda“ oder wie es in der Endfassung heißt „Propaganda der nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen“ ist dazu so formuliert, dass sich theoretisch jeder strafbar macht, der Minderjährigen erzählt, dass homo- und heterosexuelle Beziehungen gleichwertig sind.
Homosexuelle Eltern sind damit verpflichtet, ihren Kindern die elterliche Beziehung als nicht gleichwertig zu Heteropaaren zu vermitteln:
„Dieses Gesetz beunruhigt gleichgeschlechtliche Familien sehr“, sagt Olga Lenkowa von der Sankt-Petersburger Organisation Wychod („Ausweg“), die Homosexuelle berät. „Nachbarn oder Lehrer dürfen nun eine Strafanzeige gegen homosexuelle Eltern erstatten“, sagt sie.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, gegen das Gesetz nicht zu verstoßen: Man muss jeden Tag den Kindern sagen ‚Unsere Familie ist nicht normal.‘ Das würde doch niemand tun.“ Die meisten gleichgeschlechtlichen Familien, die zu Wychod kommen, fragen jetzt, wie sie auswandern oder ein politisches Asyl im Ausland erhalten können.
An die von den zwei Frauen herbeigesehnte Hochzeit ist unter diesen Bedingungen im eigenen Land nicht zu denken:
Anna und Alexandra planen eine Hochzeit – im Ausland. Sie wählen ein europäisches Land, in dem sie die Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft schließen können. Sie träumen von einer richtigen Feier mit weißen Kleidern, aber natürlich nicht in Russland.
„Zwei Bräute – hier würde das niemand verstehen“, sagt Anna. „Und kein Restaurant würde uns reinlassen, um sich nicht strafbar zu machen.“
Die zwei Frauen haben wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse:
„Wir sind alle in der UdSSR geboren“, sagt Anna. „Und jetzt gehen wir zurück in die UdSSR. Die Macht ist in den Händen einer Gruppe von Menschen.“
Der Staat verhält sich tatsächlich als befände man sich noch im Kalten Krieg:
Das neue Gesetz hängt wie ein Damoklesschwert über den Organisationen wie Wychod und über Familien wie die von Anna und Alexandra. Wychod, die eine Partnerorganisation in Deutschland hat, wurde dazu aufgefordert, sich als „ausländischer Agent“ registrieren zu lassen.
Ein Gericht in Sankt-Petersburg verurteilte die Organisation zur höchst möglichen Geldstrafe – umgerechnet etwa 12.000 Euro.
Das Gesetz verhindert vor allem jede Aufklärung über Homosexualität. Die Vorurteile aus Sowjetzeiten, als sie noch als Straftat galt, werden gestärkt.
Und so kann man Homosexualität indirekt kriminalisieren, auch ohne dass sie einen direkten Straftatbestand darstellt:
„Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass wir auch Gefühle füreinander haben können.“ Und Anna empört sich: „Wir sind beide in heterosexuellen Familien aufgewachsen. Die Homosexualität ist also nicht ansteckend und wird nicht durch Propaganda verbreitet.“ Sie darf das in Russland noch sagen, aber nicht zu laut und bloß nicht in Anwesenheit von Kindern.
Trotz allem freuen die beiden Frauen sich auf ein weiteres Kind, wenn auch ohne Zukunft in der Heimat:
Nun wollen die beiden Frauen zumindest für ihr privates Glück kämpfen. Sie halten es für natürlich, Kinder zu haben. Auch Alexandra plant, in der absehbaren Zukunft ein Kind zur Welt zu bringen, sehr wahrscheinlich durch künstliche Befruchtung.
Das will sie in Russland tun, weil die Familie hier eine gesicherte Existenz hat. Auch die Eltern, die tolerant sind, helfen ihnen. Doch es wird nicht immer möglich sein, innerhalb eines kleinen sicheren Raums zu leben. Dann werden sie auswandern, um nie mehr fürchten zu müssen, dass der Staat ihnen Kinder wegnehmen kann, nur weil die beiden Frauen lesbisch sind.
Einfach nur Brechreiz!