Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Kontrolle.
meint der amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr. Einen vermutlich aus diesem Geist heraus verfassten geistlichen Impuls zur Debatte um das PRISM-Programm fand ich im Gemeindebrief einer Berliner Baptistengemeinde:
Geahnt haben wir es längst. Ganz genau wollten wir es lieber nicht wissen. Nun hat einer enthüllt, was unter der Decke bleiben sollte: Amerikanische und britische Behörden überwachen seit Jahren die globale Kommunikation via Internet und Telefon. Vermtulich sind sie nicht die einzigen. Darüber tritt in den Hintergrund, woran wir uns seit Jahren gewöhnt haben: Hoch auflösende Kameras zeichnen von Flugzeugen oder Satelliten aus auf, was hier am Boden geschieht. Hoch empfindliche Mikrofone hören auch durch dicke Mauern hindurch vertrauliche Gespräche ab.
Dank menschlicher Kreativität und Intellgenz stehen uns technische Mittel und Konzepte zur Verfügung, jederzeit zu kontrollieren, was jemand sagt und tut, wo er sich aufhält, mit wem er kommuniziert. Selbst Gefühle und Gedanken können über die Messung der sie begleitenden Hirnaktivität abgebildet und analysiert werden. Die totale Überwachung von Menschen durch andere Menschen ist keine theoretische Möglichkeit mehr, sondern praktisch-technische Realität. George Orwells verstörende Vision des Romans „1984“ ist jedenfalls in technischer Hinsicht von der Wirklicheit eingeholt und überholt worden.
Wobei die Technik nicht das entscheidende Problem ist, sondern ihre Anwendung. Präziser: der- oder diejenigen, die diese Technik anwenden. „Big Brother is watching you“. „Big Brother“ überwacht und kontrolliert dich. „Big Brother“ weiß alles über dich.
Das macht uns Angst, wenn jemand alles über uns weiß, wenn wir nichts vor ihm verbergen können. Wir empfinden uns dann als nackt und schutzlos. Und das löst Scham aus. Wer alles über uns weiß, kann dieses Wissen gegen uns verwenden. Wir empfinden uns ausgeliefert und bedroht.
Zu Recht gehören das Recht auf Privatsphäre und der Schutz der Privatsphäre zu den höchsten Gütern einer freiheitlichen Gesellschaft. Totale Kontrolle, vollständige Kenntnis über Menschen sind Merkmale totalitärer Herrschaft. Dass wir Bereiche haben, in die niemand anderes eindringen darf, dass wir Gefühle, Gedanken, Erfahrungen haben, die niemand anderes kennt und die jeder andere respektiert, gehört elementar zu dem, was unsere Würde als Mensch und als Person ausmacht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die jetzt publik gewordenen Ausspähaktivitäten stellen diesen fundamentalen Konsens abendländisch christlicher Kultur in Frage.
Wenn Menschen alles über ihre Mitmenschen wissen wollen, wenn sie die totale Kontrolle anstreben, überschreiten sie eine Grenze. Sie maßen sich an, wie Gott zu sein. Damit aber übernehmen sie sich. Das hat zu allen Zeiten schlimme Folgen gehabt.
Mit der Bibel glauben und bezeugen Juden und Christen, dass Gott alles weiß, dass ihm nichts verborgen ist, auch nicht der einzelne Mensch. Aber die Erfahrung und die Überzeugung, dass Gott mich sieht und kennt, besser als ich mich selbst kenne, ist eine zutiefst ermutigende und befreiende Erfahrung. Man lese dazu den 139. Psalm: Deine Augen sahen mich – von Beginn meiner Existenz an. Du siehst alle meine Wege. Du verstehst meine Gedanken von ferne. Von allen Seiten umgibst du mich… Hier spricht ein Mensch, der beglückt ist über die Zuwendung, die ihm widerfahren ist. Ein Mensch, der sich geborgen weiß bei Gott. Ein Mensch, der Gott vertraut, weil Gott ihn liebt.
Das macht gerade das Wesen unseres Glaubens aus: Wir leben als Menschen, die Gott sieht, die Gott im Auge hat, die Gott liebt! Wir sind keine verlorenen Nomaden in den endlosen Tiefen eines Universums, das herzlos und teilnahmslos ist für ihre Existenz, für ihre Leiden und ihre Freuden. „Du bist GOTT, der mich sieht!“ ist die Entdeckung Hagars, die ihr in der Wüste neue Kraft schenkt, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen (Gen 16).
Wir sind gut aufgehoben bei Gott, auch mit unseren Geheimnissen, mit dem, was sonst niemand über uns weiß und wissen soll. Und das ist gut so. Dass Gott um uns weiß, dass Gott uns kennt wie kein Mensch sonst, macht unsere Würde aus. Dass Gott uns liebt, macht uns furchtlos und stark. Gott zu vertrauen macht uns frei, unsere Mitmenschen zu lieben und zu achten und ihnen Freiheit und Freiraum zu lassen. Wir müssen nicht die Kontrolle über andere gewinnen.
Norbert Groß im aktuellen AUFBRUCH (Nr. 467), dem Gemeindebrief der Baptisten Schöneberg
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