Bis hierher und wie weiter?

22 Jun

In den letzten Tagen gab es viele Gelegenheiten, um seine Vorurteile gegenüber „dem Islam“ zu bestätigen. Man musste nur ausreichend Fakten ausblenden, dann war Orlando „ein weiterer Beweis dafür, dass der Islam der Welt nichts als Unfrieden bringt“.

Wenn man es schaffte, seine Augen und Ohren etwas weiter zu stellen, konnte man die Welt differenzierter wahrnehmen. Vor gut 10 Jahren hätte ich mich vermutlich in der ersten Beschreibung wiedergefunden. Wir waren damals überzeugt davon, dass „der Islam“ keine Religion des Friedens ist, eine derartige Aussage schien uns nur ironisch möglich. Wir waren überzeugt davon, dass „der Islam“ für die offene Gesellschaft eine einzige Bedrohung ist. „Der Islam“ erschien uns als ein monolithischer Block, in dem es so gut wie keine differenzierten Meinungen gab. Ich kann heute nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen, was von dem, was ich damals in diesem Blog geschrieben habe, von der Realität gedeckt war und was eher unseren Angstphantasien entsprang, zumindest in der Interpretation, die wir dem Geschehen in der Welt gaben. Es gibt eine ganze Reihe von Beiträgen aus dieser Zeit, die ich heute nicht mehr (so) schreiben würde. Einige davon habe ich in den letzten Jahren gelöscht, andere habe ich stehen lassen.

Doch was ist passiert, das meine Meinung, meine Sicht auf die Welt, auch auf die Welt des Islam so verändert hat? Ich bin 2009 auf der Suche nach einer christlichen Gemeinde bei den baptisten.schöneberg gelandet. Dort fand ich schnell Anschluss an einen Hauskreis, der aus lauter sympathischen Leuten bestand. Theologisch waren wir auf einer Linie, doch politisch war mir das alles zu links. So wollte ich nicht mehr sein, das war meine Vergangenheit, mit der ich glaubte, abgeschlossen zu haben. Menschen aus dem Hauskreis empfahlen mir neue theologische Literatur aus der Emerging Church, in Deutschland als Emergent Deutschland vernetzt. Ich stieß auf Texte, die mich angenehm an meine anarchistische Vergangenheit erinnerten. In Köln suchte ich Kontakt zur MCC, der Metropolitan Community Church. Ich fand eine Gemeinde, in der ich mich vorbehaltlos willkommen fühlte, mit all meinen Widersprüchen. Sowohl bei den Baptisten in Schöneberg als auch in der MCC Köln bezog man klar Stellung gegen Islamophobie. Ich kannte das Wort zuvor nur als Kampfbegriff des Ayatollah Khomeini aus dem Jahr 1979. Das, was er zu beschreiben schien, hielt ich für ein Phantasieprodukt.

In den letzten Jahren hat sich meine Haltung auch dazu verändert. Ich bin mir nicht sicher, ob sich tatsächlich soviel in der Gesellschaft verändert hat diesbezüglich oder ob ich einfach meine Augen und Ohren weiter als früher öffne. Mit dazu beigetragen hat mein haupt- und ehrenamtliches Engagement in queeren Projekten, wo ich auf das Konzept der Intersektionalität stieß. Vor dem Hintergrund meiner linken Vergangenheit fand ich es rasch nachvollziehbar und sinnvoll zur Beschreibung von Wirklichkeit und ihrem Verständnis.

In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Situationen, wo ich überlegte, an dieser Stelle etwas zu meinem eigenen Prozess zu schreiben. Ich fand nie die richtigen Worte dafür. Nach Orlando fühlt es sich dringender nötig an als zuvor. Ich empfinde die Instrumentalisierung des Massakers durch sogenannte „Islamkritiker_innen“ als erschreckend und abstoßend und möchte nicht länger mit diesem Blog und seiner Geschichte mit solchen Menschen bruchlos in einem Atemzug genannt werden können.

Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie ich mit der Veränderung in meinem Denken öffentlich umgehen sollte. Welche Verantwortung habe ich heute, wo ich manches anders sehe, das ich früher veröffentlich habe? Sollte ich das Blog bzw. meine Beiträge hier löschen? Es wäre die radikalste Lösung und würde an dieser Stelle einfach auslöschen, was ich früher geschrieben habe. Das würde ich bedauern, weil ich hier auch viel geschrieben habe, zu anderen Themen, das ich heute noch lesenswert finde. Ich habe mich daher entschieden, wenn ich über einen alten Beitrag von mir stolpere, den ich heute unerträglich finde, diesen zu löschen. Und ich habe entschieden, mit diesem Beitrag eine Art Abschluss für das, was war, zu schreiben. So bleibt es nachvollziehbarer für Interessierte.

Ich bin noch nicht sicher, ob es an dieser Stelle eine Fortsetzung geben kann und sollte. Ab und zu hätte ich schon Gedanken zum Tagesgeschehen, die ich gerne in einem Blog teilen würde. Ob der Blog-Titel dafür noch passt? Er gefällt mir immer noch. Vielleicht braucht er eine neue Bedeutung. Er benennt meine Sichtweise auf die Welt, ich schaue eben aus der westlichen Sicht, die – natürlich – nicht die einzige und auch nicht die einzig legitime und relevante ist. Mit dem „gay“ beschreibt er einen Teil meiner Identität, aber natürlich nicht alles, was sie ausmacht. Vielleicht braucht der Titel auch eine Ergänzung oder ein Update. Der Header geht für mich so nicht mehr. Und überhaupt…

Die Links in der Blogroll sind veraltet, „wer uns verlinkt“, würde der uns heute noch verlinken? Mit wem, welchen Blogs wäre ich heute gerne verlinkt? Der Zaunfink fällt mir als Erstes ein, dessen Beitrag nach Orlando ich überaus lesenswert und ansprechend finde. Carolin Emcke, deren neues Buch „Gegen den Hass“ so angekündigt wird:

Dem Hass begegnen lässt sich nur, in dem man die Einladung, sich ihm anzuverwandeln, ausschlägt. Es gilt zu mobilisieren, was dem Hassenden abgeht: die Fähigkeit zu Ironie, zu Zweifeln und nicht nachlassender Differenzierung. Ein Plädoyer für eine offene Gesellschaft und ein Lob des „Unreinen“.

Ein Plädoyer für eine offene Gesellschaft und ein Lob des „Unreinen“. Dem schließe ich mich gerne an. Und will sehen, wo ich meinen Teil dazu beitragen kann und will.

7 Antworten to “Bis hierher und wie weiter?”

  1. David 22. Juni 2016 um 11:46 #

    Danke für diesen Beitrag. Sie haben es also geschafft, Ihre Augen und Ohren etwas weiter zu stellen, und können nun die Welt differenzierter wahrnehmen. Fein. Der Islam hat nun also aus Ihrer Sicht nichts mehr mit den Anschlägen zu tun, nichts mit den kriegerischen Auseinandersetzungen allüberall, er ist dann demzufolge eine Bereicherung auch für uns, und je mehr Moslems kommen, desto besser.

    Na prima. Damit weiß ich Bescheid, und ich kann Sie sofort aus meinen lesenswerten RSS-Feeds streichen. Causa finita.

    Immerhin Klarheit also. Auch wenn die Fakten ausgeblendet werden. Beim Wort „ausgeblendet“ fällt mir spontan „Verblendung“ ein. Paßt auch.

    • Damien 22. Juni 2016 um 20:00 #

      Mach’s gut, und danke für den Fisch

  2. quellwerk 22. Juni 2016 um 22:32 #

    Amen.

  3. richard k 23. Juni 2016 um 11:10 #

    Man fragt sich immer wieder, warum die Menschen so unfassbare Probleme damit haben, den Islam als strukturgebenden Kanon von Verhaltensmustern zu kritisieren. Was soil denn eigentlich noch alles passieren, bis auch die regressiv(st)e Linke dahinter kommt, daß Islamkritik nicht automatisch rassistisch motiviert sein muss?
    Es gibt mannigfaltige Hinweise darauf, daß der Islam im Schnitt homophobes und frauenfeindliches Verhalten induziert. Aber solange die Leute sich schlichtweg weigern, darüber auch nur zu diskutieren (und vllt. später sogar mal dezidiert darüber forschen – evtl. lassen sich meine Sorgen so auch widerlegen!), weil man angeblich rassistischen Ressentiments Vorschub leistet, solange wird sich einfach nichts ändern. Vllt. sind islamische Gesellschaften auch einfach nur 50 Jahre zurück und die Anpassung erfolgt automatisch; wäre es nicht wert, das mal herauszufinden?
    Der Täter von Orlando hat im Islam eine Struktur gefunden, die seinen Hass in sozial akzeptable Gedankengänge umgeformt hat.
    Das hätte er sicherlich auch im fundamentalen Christentum finden können. Hat er aber nicht. Terror in der westlichen Welt – ungeachtet seiner Ursachen – im Durchschnitt eine Gemeinsamkeit: Den Islam. Und komme mir keiner mit perspektivlosen und sozial verrohten Jugendlichen: auch da fragt keiner, warum die alle ausgerechnet im Islam eine soziale Heimat finden, aber nicht in den christlichen Kirchen oder im Hinduismus.

    • DasKleineTeilchen 26. Juni 2016 um 07:37 #

      „Es gibt mannigfaltige Hinweise darauf, daß der Islam im Schnitt homophobes und frauenfeindliches Verhalten induziert. “

      exakt das gleiche lässt sich auch vom „modernen“ (und eben nicht nur vom „alten“) christentum sagen.

      das ist das schöne an religionen; jeder interpretiert, wies ihm gerade in den kram passt.

  4. Yadgar 4. Juli 2016 um 02:08 #

    @richard k

    Das Problem ist, dass die – sowohl legitime wie auch notwendige! – Islamkritik inzwischen zumindest im Internet (Scheiß Internet! Man sollte wirklich mal grundsätzlich was gegen das Internet unternehmen…) regelrecht von Leuten gehijackt wurde, die den Islam in Wirklichkeit nicht etwa ablehnen, weil er illiberal, autoritär, frauenfeindlich und homophob ist, sondern einfach weil er fremd ist, anders ist und sie einfach alles stört, was neu, fremd oder anders ist – und das sind dann längst nicht nur die Muslime, sondern genauso gut Ausländer schlechthin, Schwule, Lesben, Linke, Klimaforscher, Behinderte, Arbeitslose und einfach alle, die nicht ins Bild der kleinen heilen 50er-Jahre-Spießerwelt passen.

  5. johan steunenberg 5. Dezember 2017 um 21:53 #

    Wie schön! Ich weiß noch, wie ich vor zehr Jahren über dieses Blog gestolpert bin und mich gewundert und geärgert habe. Vor einigen Jahren habe ich dann die Verwunderung über den Französischen Protesten gegen Homoehe wahrgenommen – aus der gleichen Kocher wie viel ‚Islamkritik‘. Und jetzt steuer ich diese Blog wieder an und lese das hier. Ich freue mich.

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